Die Brücke von Varvarin
Der 30. Mai 1999 war der 67. Tag des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien - Beweisaufnahme zu einem "Kollateralschaden", der keiner war
Die folgende Dokumentation haben wir der Wochenzeitung "Freitag" entnommen.
Dokumentation
                                           Vesna Milenkovic´, Mutter der getöteten 16jährigen Sanja Milenkovic´ 
                                            Alles war eiskalt 
                                            "Von Anfang 1998 bis März 1999 lebte meine Tochter San-ja in Belgrad, in
                                            einem Schülerheim für Mädchen. Ich war froh, sie dort untergebracht zu
                                            haben, weil sie ständig mit gleichaltrigen Mädchen zusammen sein
                                            konnte, die wie sie begabt waren. Anfangs soll Sanja öfter geweint haben,
                                            die Sehnsucht nach ihrem Zuhause, besonders nach ihrem Bruder, war
                                            wahrscheinlich zu groß, aber ihre Betreuerin war sehr einfühlsam und
                                            liebevoll. Nach Sanjas Tod schrieb sie sogar ein Gedicht über meiner
                                            Tochter." 
                                            Als in der Nacht zum 24. März 1999 die Bombardierung Jugoslawiens
                                            beginnt, ruft Vesna im Internat an und bittet Sanja,die Sachen zu packen.
                                            Zusammen mit ihrer Mutter fährt sie unmittelbar danach von Varvarin nach
                                            Belgrad, um die Tochter zu holen. "Auf der Rückfahrt hielt ich sie in den
                                            Armen. ›Nun bist du sicher‹, tröstete ich sie", kann sich Vesna erinnern. 
                                            "Zwar gab es dann in den folgenden Wochen Luftangriffe auf die
                                            Nachbarstadt Cuprija, aber keiner wäre auf die Idee gekommen, Varvarin
                                            könnte auch betroffen sein. Im Keller hatten wir dennoch Betten vorbereitet.
                                            Es kamen auch Kinder aus den Nachbarhäusern, wir aßen, spielten,
                                            lachten nachts zusammen und sagten uns immer wieder, die kommen
                                            schon nicht bis hierher." 
                                            Am 30. Mai steht Sanja früher auf als sonst, um sich mit ihren
                                            Freundinnen am Fluss zu treffen. Vesna und ihr Mann Zoran sind an
                                            diesem Tag den gesamten Vormittag über mit Vorbereitungen für ein
                                            Festessen beschäftigt, das am nächsten Tag stattfinden soll. Dann hören
                                            sie die erste Detonation. Zoran meint, das werde wohl wieder in Cuprija
                                            gewesen sein. 
                                            Vesna: "Mir kam das sofort viel näher vor. Und bald spürten wir eine noch
                                            stärkere Erschütterung und wussten, das kann nur irgendwo in der
                                            Umgebung passiert sein. Jetzt hat es Varvarin getroffen." - Gemeinsam mit
                                            der Nachbarin, der Mutter von Sanjas Freundin Marina, bricht Vesna sofort
                                            auf, um nach den Mädchen zu suchen. "Unterwegs sahen wir in jedes
                                            entgegenkommende Gesicht, aber keine Sanja, keine Marina. Wir hörten
                                            dabei zum ersten Mal, die Brücke über die Morava sei bombardiert worden.
                                            Ob es Tote oder Verletzte gegeben hatte, wusste keiner. Als wir schon
                                            fast unten am Fluss waren, hörten wir von einer Frau, da seien noch drei
                                            Mädchen auf der zerstörten Brücke. Unten, an der Morava, herrschte
                                            völlige Stille, kein Mensch war zu sehen. Die Brücke lag im Fluss, wie mit
                                            dem Messer abgeschnitten. In den Häusern ringsumher gesplitterte
                                            Fenster und geborstene Türen. ›Sanja! Sanja!‹ schrie ich und hörte die
                                            Stimmen von zwei Mädchen, die um Hilfe riefen ..." 
                                            Die beiden Frauen klettern die Uferböschung hinab. Die Mädchen
                                            versuchen krampfhaft, an dem halb im Wasser liegenden Fußgängerweg
                                            der Brücke Halt zu finden. Sanja liegt mit dem Kopf nach unten. "›Sie
                                            atmet, sie lebt, ich helfe ihr!‹ rief mir Marina zu. Ich stand schon bis zur
                                            Brust im Wasser, um zu meiner Tochter vorzudringen, aber die Strömung
                                            war viel zu stark. Dann versuchte ich, über die Brückenteile zu ihr zu
                                            klettern, aber plötzlich waren meine Beine wie gelähmt. Ich sah alles um
                                            mich herum, aber war wie erstarrt." 
                                            Inzwischen sind Rettungsfahrzeuge eingetroffen und es gelingt, Sanja zu
                                            bergen. Sie wird auf ein Brett gelegt und so in den Krankenwagen
                                            geschoben. Vesna steigt mit ein. "Ich beobachtete mein Kind. Die Augen
                                            waren offen und bewegten sich, auch der Mund war geöffnet, aber sie war
                                            nicht bei Bewusstsein. Ich nahm ihre Hand und sagte immer wieder: ›Sei
                                            stark, ich bin doch bei dir‹. Sie atmete sehr schwer." 
                                            Im Hospital muss Vesna auf dem Flur warten, es dauert nicht lange, bis
                                            ein Arzt aus dem Operationssaal kommt und sich die Handschuhe
                                            abstreift - da weiß sie Bescheid. "Ich schrie ihn an, ›lassen Sie mich zu
                                            meiner Tochter‹. Er versuchte, mich zu beruhigen, das gerade verstorbene
                                            Mädchen sei nicht meine Tochter gewesen. Aber ich wollte selbst sehen,
                                            was passiert war." 
                                            Vesna darf in den Behandlungsraum und sieht sofort, das dort auf dem
                                            Bett liegende, 1,65 Meter große Mädchen mit den offenen Augen ist Sanja
                                            - ihre tote Tochter. "Von da an arbeitete und funktionierte bei mir alles wie
                                            bei einem Roboter. Sanja wurde gebadet. Sie hatte eine Wunde an der
                                            linken Hüfte, vom Rücken zum Bein, Splitter im Hinterkopf, im Rücken, in
                                            den Beinen. Es gab innere Verletzungen, auch an der Lunge. Ihr Körper
                                            war völlig zerstört. In dieser Situation habe ich meinen Sohn gar nicht
                                            beachtet, habe nicht bedacht, wie er sich fühlt, habe ihn nicht getröstet.
                                            Ich wollte nur mit ihr zusammen sein, fühlte kein Blut in mir, nur Eis, alles
                                            war eiskalt. Eine Freundin schlief die erste Nacht bei mir, weil ich Angst
                                            hatte, aufzustehen und zu begreifen, meine Tochter ist nicht mehr da." 
                                    
        Predrag Milosevic´, am 30. Mai 1999 in Varvarin schwer verletzt 
                                            Unerträgliche Stille 
                                            Mit seinen Eltern und seiner Frau verabschiedet Predag Milosevic´ an
                                            jenem vorletzten Maitag vor zwei Jahren seinen Bruder zum
                                            Reservistendienst im Kosovo. Anschließend geht er zur Kirche, um für den
                                            Bruder zu beten. Dort hört er die erste Detonation. Als sofort Panik
                                            ausbricht, warnt er die anderen davor, aus dem Gebäude zu rennen, da die
                                            Verletzungsgefahr durch umherfliegende Splitter vermutlich sehr groß sei.
                                            "Mir war sofort klar, der Angriff kann nur der nahegelegenen Brücke
                                            gegolten haben. Zusammen mit dem Priester machten ich mich deshalb
                                            sofort auf den Weg dorthin und sah bereits von weitem, dass ein Teil der
                                            Brücke in die Morava gestürzt war. Außerdem lagen da zwei Autos - ein
                                            roter Zastava und ein weißes Combi -, die in den Fluss gestürzt waren, und
                                            drei Mädchen, die sich an Brückenresten festklammerten. Eines von ihnen
                                            schien verletzt." 
                                            Da ihm übel wird, geht Predag instinktiv ein paar Meter von der
                                            Brückenkante zurück, als ein Zischen einen erneuten Einschlag ankündigt.
                                            Was danach geschieht, daran kann er sich bis heute nicht erinnern. Ein
                                            Schulfreund wird ihm später erzählen, sie seien beide durch die Druckwelle
                                            der Detonation in die Luft geschleudert worden und auf der Böschung
                                            gelandet. Als Predag aus der Ohnmacht erwacht, sieht er, dass sein
                                            linkes Bein von der Hüfte an fast abgetrennt ist. 
                                            "Ich drehte mich zur Straße und rief um Hilfe. Aber zunächst kam
                                            niemand. Die Menschen befürchteten wahrscheinlich noch einen dritten
                                            Angriff. Sieben oder acht Meter rutschte ich auf den Ellenbogen von der
                                            Brücke weg in Richtung Straße ..." 
                                            Predrag ist danach wieder bewusstlos und wird mit einem Krankenwagen
                                            zur Ambulanz nach Krusevac gebracht. "Ich bat sie inständig, mir das Bein
                                            zu erhalten, und wusste doch zugleich, dass es wahrscheinlich amputiert
                                            werden musste ..." Doch die Operation gelingt. Die Ärzte staunen selbst
                                            über das gelungene Ergebnis. 66 Tage verbringt Predrag im Hospital,
                                            danach muss er noch einmal 46 Tage zu Hause unbeweglich im Bett auf
                                            dem Rücken liegen. Nach dreieinhalb Monaten schließlich erste
                                            Gehversuche. "Dabei half die ganze Familie. Ich stand maximal eine halbe
                                            Stunde, bis ich in Ohnmacht fiel." Diese Schwäche ist auch eine Folge der
                                            anderen schweren Schädigungen seines Körpers. Predrag musste Haut
                                            transplantiert werden, weil das andere Bein ebenfalls stark verletzt war.
                                            Auch sein Gehör wurde in Mitleidenschaft gezogen. 
                                            "Immer wieder sehe ich die Bilder dieses Tages vor mir und durchlebe alles
                                            noch einmal. Ich zwinge mich, ein normales Leben zu führen, aber ich
                                            habe Alpträume und ertrage keine Stille mehr." 
                                            Predrags Mutter erinnert sich, wie sie am 30. Mai 1999 nach ihrem Sohn
                                            suchte, eigentlich auf dem Markt einkaufen wollte und dann mit vielen
                                            anderen zur Brücke rannte, als die erste Rakete einschlug. "Ich suchte ihn
                                            dort und fand nur zerstörte Körper. Ich suchte ihn in der Kapelle und sah
                                            die vielen Toten. Ich suchte ihn in der Ambulanz und blickte in die
                                            Gesichter der vielen Verletzten. Erst dort erfuhr ich dann, Predrag sei in
                                            Krusevac, aber ich solle nicht auf die Idee kommen, dort hinzufahren, man
                                            werde mich nicht zu ihm lassen. Dann bin ich doch fast drei Wochen lang
                                            jeden Tag mit dem Fahrrad die 25 Kilometer von Varvarin nach Krusevac
                                            unterwegs gewesen. 18 Tage lang vergeblich, um 19. durfte ich ihn endlich
                                            besuchen. Der Arzt sagte zu mir: "Wenn Sie Ihren Sohn jetzt sehen, tun
                                            Sie das auf Ihr eigenes Risiko hin ..." 
                                          
  Zivadinka Jovanovic´, Mutter des getöteten 24-jährigen Milan Savic´ 
                                            Schwarze Fahne als Richtkrone 
                                            "Am 30. Mai 1999, kurz vor 13 Uhr etwa, wollte ich in die Stadt, um
                                            meinen Sohn Milan zu treffen, und befand mich gerade auf dem Markt, als
                                            es die erste Detonation gab. Danach herrschte um mich herum Panik,
                                            Glas splitterte, die Leute versteckten sich unter ihren Markttischen. In
                                            Richtung Brücke sah ich eine große Staubfontäne." 
                                            Zivadinka Jovanovic´ will unbedingt ihre Sohn finden, doch da gibt es
                                            bereits die nächste Erschütterung. Blutverschmierte Menschen rennen an
                                            ihr vorbei, die Sirenen der Krankenwagen heulen, sie irrt durch die Stadt,
                                            fragt alle nach ihrem Sohn. Schließlich wartet sie in der Wohnung von
                                            Verwandten auf eine Nachricht, die anderen suchen weiter. 
                                            "Als ich sie verweint zurück kommen sah, wusste ich alles." 
                                            Dann läuft Zivadinka zur Brücke und sieht ihren Milan dort liegen, am Ufer
                                            der Morava. Beide Beine abgetrennt, Verletzungen am Kopf. Man versucht,
                                            sie zu beruhigen, und bringt sie zum Arzt. Der Sohn wird in der Kapelle bei
                                            den anderen Todesopfern aufgebahrt. 
                                            "Ich werde nie vergessen, wie sie ihn nach Hause brachten. Es wurde
                                            schon dunkel, eine wundervolle Mainacht. Milan und ich, wir hatten noch
                                            soviel vor, wollten uns eine neues Haus bauen, wir hatten gerade damit
                                            angefangen ..." 
                                            Zivadinka Jovanovic´ lebt heute vollkommen allein, ihr früheres Haus, das
                                            schon baufällig war, wurde durch die Bombardierung vollends unbewohnbar
                                            und musste abgerissen werden. Es stand nur etwa 200 Meter vom Zentrum
                                            der Detonationen an der Brücke entfernt. Seit zwei Jahren bewohnt sie nun
                                            einen winzigen Bungalow, ohne Wasser, ohne Radio- oder
                                            Fernsehapparat, beleuchtet nur mit einer Glühbirne an der Decke. Über
                                            dem Rohbau ihres neuen Hauses, den der Sohn noch vor seinem Tod
                                            begonnen hatte, wehte monatelang statt der Richtkrone eine schwarze
                                            Fahne - die Baustelle blieb verwaist. Zivadinka arbeitet inzwischen als
                                            Hilfsschneiderin in einer Varvariner Textilfirma. 
                                            "Ein Freund meines Sohnes hat mir später erzählt, dass er Milan daran
                                            hindern wollte, nach dem ersten Raketeneinschlag zur Brücke zu laufen.
                                            Aber Milan hat ihn angeschrieen, ›du bist ein Feigling, wir müssen doch
                                            helfen‹. Und dann soll er versucht haben, die Mädchen zu bergen in dem
                                            Augenblick, als die Brücke noch einmal beschossen wurde. Er wäre nicht
                                            umgekommen, hätte er nicht andere Leben retten wollen. Ich verstehe
                                            nicht, weshalb sie noch einmal angegriffen haben, es war ja schon alles
                                            zerstört, was sie zerstören wollten ... "
                                            
                                           
Aus: Freitag, Nr. 24, 8. Juni 2001
                                           
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