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Zivilrechtsklage jugoslawischer Staatsbürger gegen Bundesrepublik Deutschland

Presseinformation von Vesna Milenkovic (Klägerin und Sprecherin für die Opfer aus Varvarin) und Rechtsanwalt Ulrich Dost (Prozeßbevollmächtigter der Kläger)

Presseinformationen zu der Zivilrechtsklage jugoslawischer Staatsbürger wegen Luftangriffen der NATO am 30. Mai 1999 in der serbischen Kleinstadt Varvarin

I. Sachverhalt: die serbische Kleinstadt Varvarin (4000 Einwohner) wurde am Sonntag, den 30. Mai 1999 zwischen 13:00 und 13:25 von zwei Kampfflugzeugen der NATO attackiert. In zwei kurz hintereinander folgenden Angriffswellen wurden auf eine alte Brücke (Baujahr 1924) insgesamt 4 Raketen abgeschossen. Dabei kamen 10 Menschen ums Leben, über 30 Personen wurden verletzt (sämtlichst Zivilpersonen). Das jüngste Todesopfer war die damals 15jährige Sanja Milenkovic, die mit zwei gleichaltrigen Freundinnen zu Fuß die Brücke überquerte.

II. Ziel der Klage: die Hinterbliebenen der 10 Todesopfer und 17 Schwerverletzte haben am 24. Dezember 2001 am Landgericht Berlin Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben. Mit der Klage verfolgen die Kläger insbesondere folgende Ziele:
  1. die Feststellung der Verletzung geltenden Kriegsrechts und somit elementarster Menschenrechte;
  2. die Feststellung der Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Verletzung und Tötung von Zivilpersonen;
  3. den Ausgleich der erlittenen Schäden und Folgeschäden (durch Zahlung einer Geldentschädigung, die Klageforderungen belaufen sich auf über 8 Millionen DM).
III. Rechtsgrundlage der Klage: sind die Verletzung der allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts, so die Genfer Abkommen vom 12. August 1959 und insbesondere die Verletzung des Zusatzprotokolls I über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 (vgl. BGBl Teil II, Seite 1551), ratifiziert durch die Bundesrepublik Deutschland und somit unmittelbar geltendes Recht für Deutschland.
Das Zusatzprotokoll I enthält das strikte Angriffsverbot für alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien auf die Zivilbevölkerung, einzelne Zivilpersonen und zivile Objekte. Es verbietet den Angriff auf unverteidigte Orte und Angriffe ohne Vorwarnung. Es verpflichtet die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien vor einem Angriff aufzuklären, ob durch einen Angriff Zivilbevölkerung und zivile Objekte in Mitleidenschaft gezogen werden und verpflichtet sie für diesen Fall, von einem Angriff abzusehen. Alle diese Rechtsnormen wurden bei dem Luftangriff auf Varvarin verletzt, denn:
  • die Stadt Varvarin lag außerhalb von Kampfgebieten (ca. 200 Kilometer vom Kosovo entfernt), in ihr waren keine militärischen Einheiten stationiert, die Stadt war auch nicht von militärischen Transporten tangiert, die nächstgelegene Kaserne befindet sich ca. 22 Kilometer von der Stadt entfernt;
  • es handelt sich um eine ausschließlich von der Zivilbevölkerung zivil genutzte und zudem unverteidigte Stadt;
  • dem Luftangriff ging keine Warnung voraus.
IV. Die Bundesrepublik Deutschland trägt (auch) für den kriegsrechtswidrigen Luftangriff auf Varvarin unmittelbar Verantwortung. Sie hatte Kenntnis von dem beabsichtigten Angriff und hat sich darüber hinaus mit dem Angriff ausdrücklich einverstanden erklärt. Das ergibt sich aus den Erklärungen der deutschen Regierung und eines deutschen Generals über die Zielplanung in der NATO und das Zustimmungserfordernis aller Mitgliedstaaten als Voraussetzung für den tatsächlichen Angriff:
  1. nach Auskunft der deutschen Regierung im Deutschen Bundestag wurde die sogenannte Zielplanung durch die Organe der NATO vorgenommen. Mangels eigener Aufklärungsmittel in der NATO stellten die Mitgliedsstaaten die dafür erforderlichen Informationen den Organen der NATO zur Verfügung (Bundestagsdrucksache 14/1788, dort unter I., Seite 3).
    Auf Grundlage dieser Zuarbeiten nahm die NATO die sogenannte Zielauswahl vor. Die für Angriffe in Betracht kommenden Ziele wurden auf sogenannten Ziellisten zusammengestellt. Anschließend stimmten die NATO - Mitgliedsstaaten die Zielauswahl zwischen den NATO - Mitgliedsstaaten ab (vgl. Antwort der deutschen Regierung vom 28.3.2001 auf eine Große Anfrage im Deutschen Bundestag, 14.Wahlperiode, Drucksache 14/5677, dort Antwort auf die Frage unter Nr. 42, S. 35);
  2. der deutsche Generalleutnant Walter Jertz erklärte in diesem Zusammenhang, daß zum einen zwischen allen Staaten der NATO zu den beabsichtigten Luftoperationen gegen die auf den Ziellisten zusammengestellten Zielobjekten Übereinstimmung erzielt werden mußte und zum anderen Ziele von den Ziellisten gestrichen wurden, wenn nur einer der Staaten sein Einverständnis mit der Luftoperation verweigerte:
    »(Die NATO) besteht aus 19 Staaten, und die Führungsebene setzt sich aus 19 Nationen zusammen. Ihre militärischen Vorstellungen und Wünsche mußten die einzelnen Nationen vor einer Militäroperation einbringen und mit den Partnern abstimmen. Auch in der Zielauswahl und der Frage, welche Ziele überhaupt angegriffen werden durften, mußten die Beteiligten vorher übereinstimmen. Wenn eine Nation mit einem Ziel nicht einverstanden war, wurde es von der Liste gestrichen.« (vgl. Interview mit Generalleutnant Jertz, »Focus«, Heft 41/2000)
V. Der Luftangriff auf Varvarin war ein vorsätzlicher Angriff auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte. Es war beabsichtigt, Zivilpersonen zu verletzen und zu töten. Denn zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich ca. 3500 Menschen in unmittelbarer Nähe der Brücke. Wer unter diesen Umständen ohne jede Vorwarnung mit modernsten Kampfflugzeugen völlig ahnungslose Menschen mit zwei Raketen extremsten Wirkungsgrades in einer 1. Angriffswelle beschießt, handelt in Tötungsabsicht. Und wer dann nur wenige Minuten später in einer 2. Angriffswelle nochmals zwei Raketen abschießt, kann sich den Vorwurf menschenverachtenden und menschenrechtsverachtenden Verhaltens nicht entziehen.

VI. Auf Pressekonferenzen der NATO in Brüssel am 31. Mai und 1. Juni 1999 wurde der Angriff auf Varvarin als militärisch legitim bezeichnet, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Die Bundesrepublik Deutschland hat über ihr Verteidigungsministerium ausdrücklich versichern lassen, daß das bei der Zivilbevölkerung der Stadt Varvarin verursachte Leid zutiefst bedauert werden würde und gleichzeitig die Anerkennung individueller Schadenersatzforderungen der Opfer abgelehnt. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, »... das Verhalten der Piloten bei der Zerstörung der Brücke von Varvarin (ließe sich nicht) der Bundesrepublik Deutschland zurechnen.« Klageerhebung war daher geboten.

Berlin, den 17. Januar 2002

Vesna Milenkovic (Mutter der getöteten Sanja Milenkovic, Klägerin und Sprecherin für alle Opfer aus Varvarin), Rechtsanwalt Ulrich Dost (Prozeßbevollmächtigter der Kläger).

Für die Prozeßführung sind die Kläger auf Spenden angewiesen. Das Landgericht Berlin hat den Streitwert erwartungsgemäß auf 4.155.541,80 EUR und den Gerichtskostenvorschuß auf 42.189,25 EUR festgesetzt. Erst nach Zahlung des Gerichtskostenvorschusses wird die Klage an den Prozeßgegner zugestellt. Kontoinhaber des Spendenkonto ist die Vereinigung Demokratischer Juristen e.V.,
Kontonummer: 33 52 20 14, BLZ: 100 500 00 (Berliner Sparkasse),
Stichwort: »Schadenersatzklage NATO - Kriegsopfer«.


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