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"Die Menschen in Varvarin wollten Gerechtigkeit"

NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor 15 Jahren: Juristischer Weg zur Aufarbeitung in der BRD zu Ende. Ein Gespräch mit Gordana Milanovic *


Gordana Milanovic lebt in Berlin und gehörte dem Projektrat an, der die Varvarin-Klage gegen die BRD unterstützt hat.

Am 30. Mai 1999 haben ­NATO-Kampfjets in Varvarin die Brücke über die Morava zerstört. Zehn Menschen waren damals getötet worden. Sie haben anläßlich des 15. Jahrestages an den Gedenkfeierlichkeiten in der zentralserbischen Stadt teilgenommen. In den deutschen Medien spielt der Krieg seit Jahren praktisch keine Rolle mehr, inwiefern ist er bei den Menschen in Varvarin präsent?

Ich war in den vergangenen 15 Jahren immer wieder in Varvarin. Diesmal war bei der Gedenkveranstaltung am Mahnmal an der Brücke aber besonders zu spüren, wie tief die Trauer der Menschen dort ist. Dazu kamen Empörung und Enttäuschung darüber, daß die Klage, die die Varvariner in Deutschland geführt haben, im vergangenen September vom Bundesverfassungsgericht »mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen« worden ist. Im Unterschied zu früher wußten sie also, daß der juristische Weg zur Aufarbeitung des Verbrechens zu Ende ist.

Die Klagen zielten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld ab? Die materielle Entschädigung wäre »lächerlich« gewesen, wenn ich den Begriff verwenden darf, im Vergleich zu dem, was die Varvariner verloren haben. 5000 Euro für einen Getöteten, was ist das?

Den Klägern aus Varvarin ging es in erster Linie darum, Recht zu bekommen. Sie wollten durch ein deutsches Gericht feststellen lassen, daß die NATO-Angriffe ein Verbrechen waren. Ein Verbrechen an ihren Familienmitgliedern, die umgekommen beziehungsweise mit schwerwiegenden Verletzungen davongekommen sind. Sie wollten Gerechtigkeit und haben sie nicht bekommen. Um die Summe ging es kaum jemandem – auch wenn das Geld in Anbetracht der jetzigen Situation sehr willkommen gewesen wäre.

Sie meinen die schweren Überschwemmungen, von denen ganz Serbien im Mai betroffen war. Welche Schäden hat die Flut in Varvarin angerichtet?

Das Hochwasser war fürchterlich. Es gibt kaum eine Familie in Serbien, die nicht betroffen gewesen ist. Varvarin selbst war nicht überschwemmt, aber die umliegenden Dörfer und Felder. Die Gegend gehört zu den ärmsten des Landes. Viele leben dort von dem, was sie auf ihren Äckern produzieren. Sie bauen Erdbeeren, Paprika oder Tomaten an und verkaufen sie auf dem Markt. So auch Marijana, die die NATO-Bombardierung vor 15 Jahren überlebt hat. Sie hat mir jetzt gesagt, die Erdbeer­ernte, die im Frühjahr normalerweise das meiste Geld bringt, war zu über 60 Prozent durch die Überschwemmung vernichtet.

Sie haben in den vergangenen Jahren die Klägerfamilien unterstützt. Wie kann diesen jetzt bei der Bewältigung der Flutfolgen geholfen werden?

Die Klagen in der BRD wurden durch zahlreiche Spenden von Menschen guten Willens – wie man in Serbien sagt – sowie durch Kampagnen der Friedensbewegung überhaupt erst möglich gemacht. Nach der Hochwasserkatastrophe ist Hilfe vor Ort dringender als die Jahre davor. Es wäre natürlich wunderbar, wenn es auch jetzt Menschen geben würde, die »unsere« Familien unterstützen würden. Wer das tun will und kann, möge sich an mich wenden.

Serbiens Präsident Tomislav Nikolic beklagte in Varvarin, es habe bis heute keine »ehrlichen Entschuldigungen für das gnadenlose Bombardement« gegeben. Und es wäre weniger schwer, an die Kriegstoten von damals zu erinnern, »wenn neben der langen Liste der unschuldigen Opfer wenigstens der Name eines Verantwortlichen stehen würde, der für seinen Mordbefehl bestraft worden ist«. Deutschland ist damals von der SPD-Grünen-Regierung unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer in den Krieg geführt worden. Inwiefern machen die Varvariner die BRD direkt für ihr Leid verantwortlich?

Zunächst einmal war ich sehr zufrieden zu hören, daß es von der serbischen Führung in all den Jahren, seitdem Slobodan Milosevic nicht mehr dort ist, überhaupt jemanden gegeben hat, der einmal Klartext spricht. Gleichzeitig ist es verwirrend, daß es auch in den Jahren, seit Nikolic an der Macht ist, keinerlei Versuche gab, Klage gegen die BRD oder einen anderen NATO-Staat zu führen. Bekanntlich hatten die deutschen Gerichte ja entschieden, daß betroffene Zivilisten nicht gegen Staaten klagen dürfen oder können, sehr wohl aber Staaten im Namen ihrer Bürger. Aber daß Deutschland eine Mitverantwortung an diesem ganzen Verbrechen trägt, das war den Varvarinern die ganze Zeit klar. Kampfjets der Bundeswehr waren bei der Bombardierung zwar nicht direkt beteiligt, aber sie haben den Luftraum abgesichert.

Heute vor 15 Jahren, am 10. Juni 1999, beendete die NATO nach 78 Tagen die Luftangriffe und marschierte im Kosovo ein. Geht es nach der Regierung in Belgrad, soll Serbien Mitglied der EU und der NATO werden. Schon allein deswegen dürfte sie die Varvariner nicht unterstützt haben. Wie kommt dieses Andienen beim Aggressor von gestern an?

In den vergangenen Jahren war immer wieder zu hören, viele in Varvarin hoffen auf den Beitritt Serbiens zur EU. Das hat mittlerweile ziemlich nachgelassen. Ich denke, das hat auch mit den negativen Entscheidungen bezüglich der Klage zu tun.

Kontakt: 20gordana.m-k@gurrage.de">gordana.m-k@gurrage.de
Buchtipp: Im Mai ist von Gabriele Senft der Band »Target. Die Brücke von Varvarin. Dokumentation eines NATO-Kriegsverbrechens und seiner Folgen« erschienen, Verlag Wiljo Heinen, 224 Seiten, 16,80 Euro .

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, Dienstag 10. Juni 2014


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