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Vor dem Gegengipfel

Die NATO will auf ihrem Treffen in Lissabon eine neue Strategie verabschieden. Die Friedensbewegung macht international gegen das Kriegsbündnis mobil

Von Reiner Braun *

Noch immer ist es südlich warm in der weißen Stadt Lissabon, die – wenn auch zunehmend verfallend – ihre imperiale Ausstrahlung behalten hat. In der portugiesischen Kapitale trafen sich in den vergangenen Tagen zirka 80 Friedensaktivisten aus elf Ländern auf Einladung des Internationalen Netzwerkes »No to War – No to NATO und des portugiesischen Bündnisses PAGAN (siehe Interview) zu einer Aktionskonferenz. Es galt, die Protestaktionen gegen die neue NATO-Strategie und deren Verabschiedung auf dem Gipfel des Militärpakts vom 19. bis 21. November vorzubereiten.

Was sind die Kernpunkte der neuen NATO-Strategie?

1. Die NATO hält an Atomwaffen als absoluter Notwendigkeit für die Abschreckungspolitik fest. Nuklearwaffen sollen in Europa weiterhin stationiert und modernisiert werden. Allen Plänen für einen Abzug der Atomwaffen aus Europa und der Aufgabe der sogenannten nuklearen Teilhabe wird eine Absage erteilt.

2. Kernstück der neuen Doktrin ist die Übernahme der US-Pläne für eine eigene Raketenabwehr als zentrales NATO-Projekt. Ein Raketenschirm soll Europa »schützen«.

3. Der Krieg in Afghanistan wird als die aktuell zentrale Herausforderung für die NATO gesehen und soll unter verstärktem Einsatz zivil-militärischer Vernetzung bis zum Sieg fortgesetzt werden.

4. Alle Mitgliedstaaten werden aufgefordert, ihre Verteidigungsanstrengungen zu intensivieren und effektiver zu gestalten.

5. Die NATO will sich zwar per Doktrin nicht als Weltpolizei verstehen, wohl aber als Interventionskraft, wenn die »Interessen« ihrer Staaten – weltweit, besonders aber im euroasiatischen Raum – gefährdet werden. Dazu zählt ausdrücklich auch die Sicherung »ihrer natürlichen Ressourcen« und der Handelswege.

6. Eine weitere Ausweitung gen Osten wird – wenn auch vorsichtiger als in vergangenen Dokumenten – als Ziel formuliert. Dazu gehören auch neue partnerschaftliche Allianzen mit den ehemaligen südlichen Republiken der Sowjetunion sowie mit Indonesien und Malaysia, aber auch Australien und Neuseeland. Japan soll neu in eine Zusammenarbeit integriert werden.

7. Die Europäische Union wird als Partner und als zweites Bein der ­NATO, als eigene Militärallianz benannt, mit der ein »burden sharing«, eine Lasten- und Aufgabenaufteilung, vorgenommen werden soll. Dies bedeutet eine deutliche Aufwertung der durch den Lissabon-Vertrag festgeschriebenen militaristischen Politik der EU.

8. Hervorgehoben wird die Verstärkung der elektronischen Kriegsführung.

9. Auch die »neue Rolle« der NATO, die sich unter anderem im Kampf gegen die Folgen der Klimaerwärmung (Migration) und anderen globalen Herausforderungen manifestieren soll, wird in dem Papier betont.

10. All diese Herausforderungen werden eingeordnet in den »Kampf gegen den Terrorismus«. Dieser wird u.a. zur scheinbaren Legitimierung der weltweiten Interventionseinsätze der ­NATO benutzt.

Antikriegsaktionen

Das Netzwerk »No to War – No to NATO«, in dem mehr als 650 Organisationen seit der Vorbereitung des NATO-Gipfels in Strasbourg 2009 zusammenarbeiten, hat beschlossen, die Lissabon-Tagung des Pakts verstärkt für Aktionen gegen Krieg und Militarismus zu nutzen. In Portugal hat sich eine nationale Koalition zusammengefunden. Auf einer internationalen Aktionskonferenz am vergangenen Wochenende wurde folgender Protestfahrplan ausgearbeitet:
  1. Regionale und lokale Aktionen vom 15. bis 21. November. Als ein Mittelpunkt und eine »Anlaufstation« für Aktivisten und Interessierte wird in der Nähe des Gegengipfels ein »Square of Peace« eingerichtet, an dem Informa­tionsstände aufgebaut werden und kreative Aktionen sowie musikalische oder andere künstlerische Beiträge für eine Welt ohne Krieg und Gewalt durchgeführt werden.
  2. Am Freitag, den 19. November, und am Sontag, dem 21. November findet ein Gegengipfel statt. Dieser soll mit einer »International Anti-War-Assembly« enden. Im Mittelpunkt des Kongresses soll die Ablehnung der NATO und ihrer kriegerischen Strategie stehen, eine internationale Analyse derselben soll vorgenommen werden. Im Zentrum der Diskussion sollen friedliche Alternativen zum Militärpakt stehen. Aktionen der Friedensbewegung sollen vorgestellt werden und weitere Vereinbarungen über weitere und intensivere internationale Kooperationen erfolgen.
  3. Für den 20. November ist eine große friedliche internationale Demonstra­tion in Lissabon geplant.
  4. Aktionen des zivilen Ungehorsam werden intensiv vorbereitet.
  5. Ein Internet-livestream vom 19. bis 21. November soll die unabhängige Berichterstattung von den beiden Konferenztagen und der Demonstration gewährleisten. Die Liveübertragung kann nicht zuletzt genutzt werden für parallele No-NATO-Veranstaltungen in anderen Ländern und Städten.
Das Vorbereitungstreffen der internationalen Anti-NATO-Bewegung in Lissabon war von einer zuversichtlichen Stimmung geprägt. Die weiteren Schritte der Protestmobilisierung müssen nun in den einzelnen Ländern stattfinden – also auch hier in Deutschland.

* Reiner Braun arbeitet im Internationalen Koordinationskomitee »No to War – No to NATO«

Aus: junge Welt, 21. Oktober 2010


»Wir setzen auf Aktionen des zivilen Ungehorsams«

In Portugal organisiert ein breites Bündnis Proteste gegen die NATO. Kommunisten mobilisieren separat. Ein Gespräch mit Ricardo Robles **

Ricardo Robles ist einer der portugiesischen Organisatoren des Protestes gegen den NATO-Gipfel in Lissabon.

Seit Monaten bereitet PAGAN gemeinsam mit dem internationalen Netzwerk »No to War – No to NATO« den Gegengipfel und weitere Protestaktionen zum Treffen des Militärpakts im November in Lissabon vor. Was ist PAGAN?

PAGAN ist ein portugiesisches Bündnis gegen die NATO und für deren Abschaffung, das vor zwei Jahren gegründet wurde. In ihm arbeiten Personen aus verschiedenen Organisationen der Friedensbewegung wie z.B. pax christi mit, Aktivisten aus Umweltschutz- und Menschenrechtsgruppen, aus Studierenden- und Jugendorganisationen sowie ehemalige Offiziere der portugiesischen Revolution von 1974 und Menschen aus linken Parteien wie dem Blocco -- vergleichbar mit der Linken in Deutschland. Es ist ein wirklich breites, pluralistisches Netzwerk.

Es fehlen die KP Portugals und das mit ihr verbundene Friedensbündnis.

Leider war eine Zusammenarbeit mit diesen wichtigen Kräften bisher nicht möglich, obwohl wir es versucht haben. Sie bereiten eigene Aktionen vor. Aber uns verbindet inhaltlich viel mehr, als uns organisatorisch trennt, und wir hoffen, daß wir zu zukünftigen Gemeinsamkeiten finden werden.

Warum lehnt PAGAN die NATO ab?

Portugal ist beteiligt am Krieg in Afghanistan, wenn auch »nur« mit etwa 100 Soldaten. Wir lehnen die Militärbasen ebenso ab wie die Nuklearwaffen. Die neue NATO-Strategie schreibt das Gegenteil fest. Es gibt also auch aus portugiesischer Sicht viele Gründe, gegen die NATO zu sein. Nicht zuletzt: Wir brauchen jeden Euro für die Sicherung unserer sozialen Systeme und für Bildung, nicht aber für den Krieg.

Welche zentralen Aktionen gegen den Kriegspakt sind geplant?

Als erstes der gemeinsame Gegengipfel mit dem internationalen Netzwerk gegen die NATO, dann aber besonders auch die Aktionen des zivilen Ungehorsams und die Großdemonstration am 19.November in Lissabon.

Wir wollen aber auch versuchen, durch den von uns organisierten bunten »Friedensplatz« viele Menschen unserer Stadt direkt anzusprechen und diese wie auch die Touristen über die Kriegspolitik der NATO aufzuklären. Für uns ist die Internationalität des Protestes ein großer Erfolg, nur gemeinsam mit den Friedenskräften der Welt werden wir das internationale Kriegsbündnis überwinden können.

Interview: Lucas Wirl

** Aus: junge Welt, 21. Oktober 2010


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