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Ein Abbau demokratischer Rechte?

Reiner Braun über die Proteste gegen den NATO-Geburtstag Anfang April / Reiner Braun ist Geschäftsführer der »Internationale Juristinnen und Juristen gegen den Atomkrieg« in Deutschland *


ND: Vergangenes Wochenende traf sich die Friedensbewegung, um die Proteste zum 60. Jahrestag der NATO-Gründung Anfang April in Straßburg und Baden-Baden vorzubereiten. Was genau ist in Planung?

Braun: 500 Aktivisten aus 19 Ländern haben sich auf einen »Fünf-Punkte-Plan« verständigt: Es wird in Straßburg ab dem 1. April ein internationales »Widerstandscamp« geben. Das abendliche Dinner der NATO-Regierungschefs begleiten wir am darauffolgenden Tag in Baden-Baden mit einer Demonstration. Am 3. und am 5. April findet drittens der internationale Kongress »Nein zu NATO - Nein zu Krieg« statt, auf dem die gegenwärtige NATO-Strategie und Alternativen zu dem Militärbündnis zentrale Themen sein werden. Viertens sind Aktionen des zivilen Ungehorsams am 4. April geplant. Und fünftens findet eine Demonstration am gleichen Tag in Straßburg statt.

Wer ist an den Protestvorbereitungen beteiligt?

Aus Deutschland bereiten die Proteste u. a. der Bundesausschuss Friedensratschlag, die Kooperation für den Frieden, das globalisierungskritische Netzwerk Attac und einige Gewerkschaften vor. International arbeiten Friedensbewegungen aus fast 20 Ländern zusammen - ein Spektrum, das die außerparlamentarische Szene Europas widerspiegelt.

Zuletzt war von Behinderungen von Seiten der zuständigen Behörden zu lesen. Ganze Stadtteile von Straßburg sollen für die Demonstranten nicht zugänglich sein.

Auf vielfältigen Druck - vor allem aus Paris - gibt es den Versuch, die Demonstrationen von der Innenstadt in den Hafen zu verbannen. Wir halten am Stadtzentrum als Demonstrationsort fest und haben eine Kampagne für ein offenes Straßburg gestartet. Positiv ist, dass wir uns mit den Behörden über den Ort für das Camp und den Kongress verständigen konnten.

Werden die Aktivisten durch dieses Vorhaben daran gehindert, ihre demokratischen Rechte auszuüben?

Es geht darüber hinaus. Die Politik wird von dem Willen des Staatsbürgers losgelöst. Demokratie wird abgebaut und zu einer Zuschauerveranstaltung degradiert. Die Proteste sind darum auch ein Zeichen für mehr Demokratie.

Die Behörden ziehen in Erwägung, den deutsch-französischen Grenzübergang, die »Europabrücke von Kehl nach Straßburg, zu schließen. Was würde eine Sperrung der Brücke bedeuten?

Eine Sperrung der Brücke ist juristisch nicht durchsetzbar. Für die Brücke gilt das Gesetz der Bundesrepublik Deutschland. Und Verfassungsgerichtsurteile besagen, dass zeit- und ortsnah zu einer Veranstaltung demonstriert werden darf. Ich kann die Behörden nur auffordern, diesen Streit mit uns vor Gericht auszufechten. Das Urteil ist vorhersehbar.

Nach verschiedenen Presseberichten ist mit einem massiven Aufgebot der Polizei zu rechnen. Sind Parallelen zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Mai 2007 zulässig?

15 000 Beamte je Seite sollen die Proteste »absichern«. Das ist der größte Polizeieinsatz in der Demonstrationsgeschichte Europas. Es gibt eine abgestimmte Strategie der deutschen und der französischen Polizei. Das bedeutet, dass sich zwei Instanzen, die beide nicht für einen besonders friedlichen und gewaltfreien Umgang bekannt sind, gegenseitig noch aufstacheln werden. Der reaktionären Militanz sind kaum Grenzen gesetzt.

Fragen: Christian Klemm

* Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2009


"Verfassungsrecht ist für uns nicht verhandelbar"

Frankreich und Deutschland hebeln bei den Protesten gegen die NATO-Jubelfeiern eigene Grundrechte aus. Ein Gespräch mit Martin Singe **

Martin Singe arbeitet im Sekretariat des Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Für die Zeit vom 3. bis 5. April sind in Strasbourg und Baden-Baden grenzüberschreitende Proteste gegen die Feiern zum 60jährigen Bestehen der NATO geplant. Sie haben jetzt u.a. beim Innenministerium in Paris dagegen protestiert, daß in Strasbourg jede Demonstration verboten werden soll. Glauben Sie im Ernst an ein Einlenken?

Wir hoffen in der Tat, daß wir international soviel Druck aufbauen können, daß die französische Regierung das Recht auf Demonstrationen gewährleistet. Natürlich wissen wir, daß dieses Recht bei derartigen Anlässen immer wieder eingeschränkt wurde - wir finden uns aber nicht damit ab. Verfassungsrechte sind nicht verhandelbar, weder auf französischer noch auf deutscher Seite.

Auf deutscher Seite sieht es nicht besser aus - auch dort müssen die Demonstranten mit massiven Einschränkungen rechnen. Können Sie wenigstens bei den lokalen Behörden so etwas wie Entgegenkommen erkennen?

Davon habe ich recht wenig wahrgenommen. Man will uns nicht einmal ein Camp in Kehl genehmigen - wir weichen deswegen nach Strasbourg aus, auf die andere Seite der Grenze, weil zu befürchten ist, daß die Europabrücke über den Rhein dichtgemacht wird. In Baden-Baden soll ebenfalls großflächig alles abgesperrt werden, dort wird es eine Rote Zone und Sonderausweise geben. Wie wir hören, arbeiten die Gerichte auf deutscher Seite schon mit der Polizei zusammen, die wie bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm Sammelstellen für Gefangene vorbereitet. Wahrscheinlich werden das wieder Käfige sein.

Das Demonstrationsrecht wird vom Grundgesetz garantiert - wäre es aussichtsreich, wenn Sie gegen die Einschränkungen Klage erhöben? Oder eine einstweilige Verfügung erwirkten?

Natürlich werden wir versuchen, unser Demonstrationsrecht juristisch durchzusetzen. Immerhin hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Urteil von 1985 festgelegt, daß derjenige, der demonstriert, auch weitgehend das Recht hat, Ort und Zeit dafür festzulegen.

Obwohl die Bundeswehr laut Grundgesetz im Inland nicht eingesetzt werden darf, wird sie auch in Baden-Baden wieder im Wege der »Amtshilfe« tätig sein. Wäre das nicht auch ein Anlaß zur Klage?

Inwieweit wir gerichtlich gegen den Amtshilfeparagraphen weiterkommen, kann ich nicht einschätzen. Entwürfe für dessen Ausweitung liegen allerdings schon in den Schubladen. Der Kampf gegen weitere Bundeswehreinsätze im Inneren muß politisch geführt werden.

Der Staat selbst bricht also bei den bevorstehenden NATO-Feiern gleich in zwei Fällen die Verfassung - welchen Stellenwert hat das Grundgesetz für ihn eigentlich noch?

Das Grundgesetz wird immer wieder durchbrochen und ausgehebelt, das wird gerade bei solchen Gelegenheiten wie der NATO-Feier deutlich. Wenn es wirklich nach Recht und Gesetz ginge, müßte die Polizei dort eingreifen, wo völkerrechtswidrige Verbrechen geplant werden - nämlich bei der NATO selbst. Die schreibt z.B. in ihrer neuen Strategie den Ersteinsatz von Atomwaffen fest oder plant Angriffskriege ohne Mandat der Vereinten Nationen. Dagegen steht ebenfalls das Grundgesetz: Artikel 26 z.B. verbietet den Angriffskrieg und auch andere völkerrechtlich verbindliche Regeln wurden in dieses Gesetzeswerk aufgenommen. Das alles treten die NATO und ihre Unterstützer mit Füßen - ein solches Verhalten ist Kriminalität in geballter Form.

Glauben Sie, daß Appelle irgendeine Wirkung auf die deutsche oder die französische Regierung haben?

Das werden wir sehen. Wir haben unser Schreiben jedenfalls an die französische Botschaft in Berlin, an das Innenministerium in Paris sowie an die Europaabgeordneten gerichtet. Besprochen wurde das alles am Wochenende, als wir uns mit etwa 400 Teilnehmern aus zehn Ländern in Strasbourg zur Vorbereitung der Proteste getroffen haben. Französische Gruppen werden auf jeden Fall im eigenen Land versuchen, möglichst viel Druck auf die Behörden auszuüben.

Interview: Peter Wolter

** Aus: junge Welt, 18. Februar 2009

Protestschreiben des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie protestiert in Schreiben an das französische Innenministerium, an die französische Botschaft und an die Mitglieder des Europäischen Parlaments gegen die geplante Einschränkung der Demonstrationsfreiheit während der Proteste gegen den NATO-Gipfel in Strasbourg und Baden-Baden/Kehl. Wir dokumentieren das Schreiben nach dem in der "jungen Welt vom 18. Februar 2009 mitgeteilten Wortlaut:

Im Rahmen der internationalen Konferenz zur Vorbereitung von Demonstrationen und Protestaktionen anläßlich des NATO-Gipfeltreffens am 3./4. April 2009 in Strasbourg wurde bekannt, daß jegliche Demonstration im inneren Stadtbezirk von Strasbourg verboten werden soll. Dazu sollen eine Rote Zone, eine Passier-Ausweis-Kontrolle und ein neues Video-Überwachungssystem eingerichtet werden. Kurzerhand sollen die Schengener Binnengrenzen wieder eingeführt werden -- nach dem Motto: grenzüberschreitender militärischer Taumel: ja -- demokratische grenzenübergreifende Aktion von unten: nein.

Für die über 350 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der internationalen Vorbereitungskonferenz am 14./15. Februar in Strasbourg ist das eine nicht akzeptable Einschränkung von Grundrechten. Die Friedensbewegung verfolgt weiterhin das Ziel, am 4. April in der Innenstadt von Strasbourg mit Tausenden Bürgerinnen und Bürgern gegen den NATO-Gipfel zu demonstrieren.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie ruft im Rahmen seiner Aktivitäten und Kooperationen mit der Friedensbewegung dazu auf, an den Demonstrationen rund um den NATO-Gipfel teilzunehmen. Die beabsichtigten massiven Einschränkungen des Versammlungsrechts und damit des Rechts auf freie Meinungsäußerung in der Nachbarschaft des NATO-Gipfels sind mit Demokratie und Bürgerrechten unvereinbar. Sie zeugen von der tiefsitzenden Furcht des Staatsapparats vor dem eigentlichen Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern. Anläßlich der NATO-Tagung wollen offensichtlich Polizei- und Militärverwaltung über eine ganze Region zwischen Baden-Baden und Strasbourg den Ausnahme- und Belagerungszustand verhängen, damit sie von Bürgerinnen und Bürgern ungestört bleiben. Der Souverän wird ausgeschlossen. Die feierlich proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird vor den NATO-Mächtigen gebeugt.

Das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, also das Recht auf Demonstrationen, ist das demokratische Urrecht der Bürgerinnen und Bürger schlechthin, allemal in repräsentativ demokratisch verfaßten Systemen, die ansonsten wenig Raum für unmittelbare Äußerungen des Souveräns bereithalten. Wir fordern deshalb alle Politikerinnen und Politiker auf, keinerlei Einschränkungen von Grundfreiheiten anläßlich des NATO-Gipfeltreffens zu akzeptieren. Die kriegsstrategischen Planungen der NATO müssen sich der öffentlich kritischen Debatte und dem öffentlichen Protest stellen. Eine Demokratie unter polizeilich-militärischem NATO-Ausnahmezustand werden Bürgerinnen und Bürger nicht hinnehmen.

Wir fordern die zuständigen Ministerien und Behörden sowie alle verantwortlichen Politikerinnen und Politiker auf, sich für ein uneingeschränktes Recht auf Demonstration in den Tagen des NATO-Gipfeltreffens am ersten April-Wochenende zwischen Baden-Baden und Strasbourg einzusetzen.




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