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Neue NATO – ein Bündnis der Illusionen?

Ein Beitrag von Andreas Dawidzinski in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien"


Andreas Flocken (Moderation)
Internationales Krisenmanagement - diese und andere Aufgaben hat sich die NATO auf die Fahnen geschrieben. Der Gipfel in Chicago vor knapp vier Wochen sollte die Allianz fit machen für die neuen Herausforderungen. Doch wurden die Weichen richtig gestellt? Andreas Dawidzinski berichtet:


Manuskript Andreas Dawidzinski

NATO-Generalsekretär Rasmussen ist ein PR-Profi. Er versucht, seine Organisation im richtigen Licht erscheinen zu lassen und verbreitet gerne Erfolgsmeldungen. So auch Anfang dieses Monats. Der Däne ließ noch einmal den NATO-Gipfel Revue passieren und zog – wenig überraschend – eine durchweg positive Bilanz dieser Konferenz:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Auf dem NATO-Gipfel vor zwei Wochen haben wir uns drei klare Ziele gesetzt: Die Weichen für die nächsten Phasen unseres Afghanistan-Engagements zu stellen; sicherzustellen, dass die NATO auch in Zeiten wirtschaftlicher Probleme klug in neue militärische Fähigkeiten investiert; und drittens, die Beziehungen zu unseren Partnern zu stärken. Wir haben diese Ziele erreicht. Und nun unternehmen wir die nächsten Schritte.“

Das Bündnis ist auf dem richtigen Weg, so die Botschaft des NATO-Generalsekretärs.

Ganz andere Töne waren allerdings nach dem Gipfel an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg zu hören. Ehemalige Leiter des Planungsstabes des Verteidigungsministeriums waren zusammengekommen, um die Zukunftsfähigkeit der NATO kritisch zu beleuchten. Und die Teilnehmer des sogenannten Hamburger Diskurses nahmen kein Blatt vor den Mund.

Für Theo Sommer, erster Chef des Planungsstabes und langjähriger Journalist der Wochenzeitung DIE ZEIT, hat das Bündnis seine besten Jahre hinter sich. Mit dem Fall der Mauer begann für die NATO eine Phase der Orientierungslosigkeit:

O-Ton Sommer
„Ich stelle fest, seit 1989/90, seit der großen Zeitwende gleicht die Organisation einem Hammer, auf der Suche nach Nägeln. Ein Militärbündnis, das nicht mehr ganz genau weiß, oder noch nicht ganz genau wieder weiß, was denn seine Rolle ist oder sein soll.“

Zwar hat es auch nach Ende des Ost-West-Konflikts viele Interventionen der NATO gegeben – vom Balkan, über Afghanistan bis Libyen. Doch die meisten Eingriffe sind nicht erfolgreich gewesen. Das Problem: Die neuen Bedrohungen sind nicht in erster Linie militärische Bedrohungen:

O-Ton Sommer
„Russland bedroht uns nicht militärisch. Cyberwar, das können irgendwelche Gangs machen. Ohnehin muss man da unterscheiden zwischen Cyber-Kriminalität, Cyber-Spionage und wirklichem Krieg. Den hat es bisher nur zwischen Amerika, Israel und Iran gegeben, bzw. Anfänge davon. Also das scheint mir die neue Situation zu sein. Es gibt keine existenzielle Bedrohung. Und damit fällt die kittende Wirkung [der Bedrohung] zu einem guten Teil weg.“

Für Harald Kujat besteht die Schwäche der NATO vor allem darin, schon seit Jahren die eigenen militärischen Fähigkeiten vernachlässigt zu haben. Die NATO sei schwach, weil Europa schwach sei. Für den ehemaligen Generalinspekteur ist dafür vor allem Deutschland verantwortlich:

O-Ton Kujat
„Das größte europäische Land, das wirtschaftlich stärkste, das zweitgrößte Mitgliedsland in der NATO, verfügt weder über strategischen Weitblick, noch sicherheitspolitischen Gestaltungswillen. Und das ist das Problem, das die NATO hat. Interessanter Weise wird das im Übrigen in verklausulierter Form auch im Abschlusskommuniqué in Chicago gesagt. Es wird nur, wie das eben unter befreundeten Staaten üblich ist, nicht mit dem Finger auf Deutschland gezeigt. Aber wer lesen kann, weiß genau, wer hier gemeint ist.“

Ulrich Schlie, nach der Auflösung des Planungsstabes Leiter der neu eingerichteten Abteilung Politik im Verteidigungsministerium, sieht das naturgemäß anders. Deutschland sei nicht isoliert, schon gar nicht während des NATO-Gipfels – trotz der Weigerung, sich bei der NATO-Operation gegen Libyen zu beteiligen. Deutschland habe keineswegs an Einfluss verloren. Schlies Begründung:

O-Ton Schlie
„Die Bundeskanzlerin hat am ersten Tag als Zweite, nach Präsident Obama, das Wort ergriffen. Und wenn man sich ansieht, wie sehr die Bundeskanzlerin von den anderen umlagert worden ist, von Obama, von Hollande und von anderen - dann würde ich da nicht zu der Conclusio kommen, dass Deutschland gegenwärtig gar keine Rolle in diesem Bündnis spielt. Wir dürfen jetzt auch unser Licht nicht, was wir gerne machen, unter den Scheffel stellen.“

Die NATO hat in Chicago vereinbart, ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern, trotz der Haushaltsprobleme der Mitgliedsländer. Smart Defence, kluge Verteidigung, ist das Zauberwort von Generalsekretär Rasmussen. Für Harald Kujat ist das Wunschdenken. Das Bündnis leidet für den ehemaligen Vier-Sterne-General unter Realitätsverlust:

O-Ton Kujat
„Was ich höre, was bei mir ankommt, sind Illusionen. Smart Defence, Pooling and Sharing, das kommt mir so vor, wie die Speisung der 7.000. Wir haben nur einen Hering, aber 7.000 sollen davon satt werden. Das konnte Christus, aber nicht der NATO-Generalsekretär, und wir können das auch nicht. Das sind Diskussionen, die führen wir seit Jahrzehnten. Seit Jahrzehnten! Defence Capabilities Initiative, Long Term Defence Program, Prague Capabilities Initiative. Zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt zu leisten, dazu hat sich jeder verpflichtet. Es ist eben nicht so, dass man mit weniger Geld mehr Fähigkeiten erringen kann. Es ist einfach eine Illusion. Jede schwäbische Hausfrau weiß das. Nur die NATO weiß es nicht, und die Politiker wissen es nicht.“

Und bei dem in Chicago vereinbarten rund 1,3 Milliarden Euro teuren Bodenaufklärungssystem AGS redet sich der frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses richtig in Rage. Das Bündnis spricht gerne von einem Leuchtturm-Projekt. Für Kujat ist das AGS ein alter Hut mit einer langen Vorgeschichte:

O-Ton Kujat
„Dies System wurde 1992 als militärische Forderung aufgestellt. Es war dann tot. 2002 habe ich es wiederbelebt. Und dann ist es abgemagert worden, immer weiter, immer weiter unter das militärische Minimum. Und nun wird nach 20 Jahren als großer Erfolg gefeiert, dass es nach 25 Jahren endlich zur Verfügung stehen wird. Air Command and Control System - daran habe ich schon als Oberstleutnant gearbeitet. Und es ist immer noch nicht fertig. Ich will damit nur einmal deutlich machen, dass all diese schönen Worte, wir machen aus weniger mehr - das ist für mich Neues Testament, das ist irreal.“

In der Sackgasse sind die Beziehungen der NATO zu Russland. Präsident Putin hatte es abgelehnt, zum Gipfel nach Chicago zu reisen. Hauptstreitpunkt ist die Raketenabwehr. Ex-Planungschef Ulrich Weisser hält es für unklug, Moskau in eine gegnerische Ecke zu drängen. Sicherheit könne es nur gemeinsam mit Russland und nicht gegen Russland geben. Weisser fordert daher Zugeständnisse des Westens in Sachen Raketenabwehr:

O-Ton Weisser
„Es ist also wirklich beim besten Willen nicht nachvollziehbar, warum das Bündnis im Allgemeinen und die Vereinigten Staaten im Besonderen den Russen keine Garantieerklärung geben wollen, dass das System nicht gegen sie gerichtet ist. Da empfehle ich jedem, das Haushaltsgesetz von 1999 nachzulesen. Es formuliert für die Raketenabwehr auch derart klare Bedingungen, die in Russland gar nicht anders verstanden werden können, als dass das System auch gegen sie gerichtet ist.“

Begründet wird der Raketenabwehrschild mit der Bedrohung durch den Iran. Allerdings bemüht man sich auch, den Streit um das Atomprogramm mit Teheran politisch zu lösen. Theo Sommer fragt daher:

O-Ton Sommer
„Angenommen, sie lassen sich auf die westlichen Vorstellungen ein, blasen wir dann das Raketenabwehrprogramm ab?“

Wohl kaum. Dazu ist das Projekt schon viel zu weit fortgeschritten. Deutlich wird aber: die Legitimation der NATO-Raketenabwehr ist nicht frei von Widersprüchen. Ein entschiedener Befürworter des Projekts ist NATO-Generalsekretär Rasmussen. Im Bündnis ist der Däne nicht unumstritten. Kritiker wenden sich vor allem gegen globale Optionen der NATO. Viel wichtiger sei, die Sicherheitsprobleme am Rande Europas zu lösen, etwa im Nahen Osten – und zwar gemeinsam mit Russland. Dass dies nicht geschieht, dafür macht Ulrich Weisser insbesondere Anders Fogh Rasmussen verantwortlich:

OT Weisser
„Und insofern ist der NATO-Generalsekretär ein Teil des Problems, weil er auf diesem falschen Fuß ständig Hurra schreit, und offensichtlich als Ministerpräsident eines provinzgleichen kleinen Landes in Europa keinen weltpolitischen Überblick hat, der nun auch der Bevölkerung vermittelt, dass sich dieses Bündnis neu definieren muss.“

Afghanistan wird von den NATO Offiziellen in der Öffentlichkeit weiterhin als ein Erfolg verkauft. Für Kritiker ist der jetzt eingeleitete Abzug allerdings ein Eingeständnis des Scheiterns. Auch für Harald Kujat ist die NATO-Mission kein Ruhmesblatt. Das Bündnis habe gleich mehrere Fehler gemacht:

O-Ton Kujat
„Was die NATO nicht erreicht hat ist, dass die Voraussetzungen, die auf der militärischen Seite geschaffen wurden, dazu geführt haben, dort ein tragfähiges Staatswesen ohne Korruption, ein landesweites Justizsystem, Gleichheit der Menschenrechte für alle usw. zu schaffen. Diese zivilen Maßnahmen hat die NATO nicht erreicht. Daran ist sie gescheitert. Das muss man ganz klar und eindeutig sagen. Und sie hat einen weiteren großen Fehler gemacht: Sie hat nicht erkannt, dass das Problem über die Zeit gar nicht mehr Afghanistan ist, sondern, dass es ein regionales Problem geworden ist. Das ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen Pakistan und Afghanistan.“

Eigentlich keine grundsätzlich neue Erkenntnis. Eine Lösung des Konfliktes am Hindukusch unter Einbeziehung der Anrainer-Staaten einschließlich des Iran ist allerdings weiterhin nicht in Sicht.

Die Afghanistan-Mission ist in der Bevölkerung der NATO-Mitgliedsstaaten unpopulär - vor allem in Deutschland. Wohl auch, weil der Öffentlichkeit mit Fortdauer des Einsatzes eine falsche Begründung gegeben worden ist. Harald Kujat mit Blick auf die prägnante Äußerung des früheren Verteidigungsministers Peter Struck:

OT Kujat
„Wir sind nicht nach Afghanistan gegangen, um, wie es später hieß, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen. Wir sind nach Afghanistan gegangen, um das uneingeschränkte Solidaritätsversprechen des deutschen Bundeskanzlers nach dem Angriff auf das Pentagon und auf das World Trade Center einzulösen. Das war die Zielrichtung. Das heißt, unter diesem Gesichtspunkt hätte man nach einer gewissen Zeit durchaus sagen können, wir haben genug der Solidarität geleistet, jetzt gehen wir nach Hause. Aber dann ist aus rein innenpolitischen Gründen, nämlich weil man glaubte, man könnte so die Unterstützung der Bevölkerung sicherstellen, gesagt worden: Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt. Das ist nicht der Fall.“

Insofern hat die Bundesregierung die Öffentlichkeit hinters Licht geführt. Kein glaubwürdiger Beitrag für die immer wieder angemahnte sicherheitspolitische Debatte in Deutschland.

* Aus: NDR Info "Streitkräfte und Strategien", 16. Juni 2012


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