Rasmussen hört in Russland zu
NATO-Generalsekretär verhandelte in Moskau
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Er hoffe, der NATO-Russland-Gipfel Mitte November in Lissabon werde »eine neue Seite« im
Verhältnis zwischen Moskau und dem westlichen Militärbündnis aufschlagen, sagte NATOGeneralsekretär
Anders Fogh Rasmussen noch vor Beginn seiner Gespräche mit Präsident Dmitri
Medwedjew und Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch.
Rasmussens Hoffnungen sind nicht unberechtigt. Im Unterschied etwa zum Spanier Javier Solana,
einem seiner Vorgänger, hatte der dänische NATO-Generalsekretär schon beim Antrittsbesuch in
Moskau im vergangenen Dezember klar gemacht, dass er zuhören kann und gesonnen ist,
Rücksicht auf russische Befindlichkeiten zu nehmen. Das schlägt sich aus Sicht russischer Experten
auch im neuen strategischen Konzept der Allianz nieder, das die NATO-Staaten in Lissabon
verabschieden wollen.
Zudem hat man sich in Washington, vor allem aber in Paris und in Berlin, offenbar zu der Erkenntnis
durchgerungen, dass es ohne Russland keine Lösungen für große Probleme der internationalen
Politik gibt. Wie der russisch-französisch-deutsche Gipfel Mitte Oktober in Deauville zeigte, will das
»alte Europa« ergebnisorientiert über den Entwurf eines Europäischen Sicherheitsvertrags
verhandeln, für den Medwedjew seit gut zwei Jahren wirbt. Russland wiederum will seine Position zu
dem von den USA geplanten Raketenabwehrschild überdenken. Medwedjew schließt eine russische
Beteiligung nicht aus. Rasmussen selbst hatte die von Barack Obama vorgeschlagenen
Modifikationen mit Ebbe in den Kriegskassen vieler NATO-Mitgliedsländer begründet. Statt
Abwehrstellungen nur in Polen und Tschechien zu stationieren, will die Allianz die damit
verbundenen Lasten auf möglichst viel Schultern verteilen und einen Gutteil davon Russland
überhelfen.
Beides – Sicherheitsvertrag und Raketenabwehr – stand daher auch ganz oben auf Rasmussens
Themenliste für Moskau. Beide Seiten sprachen von Fortschritten, es gibt jedoch noch viel zu tun.
Gegen einen gemeinsamen euroatlantischen Sicherheitsraum, der sich von Vancouver bis
Wladiwostok erstrecken soll, hat die NATO nach wie vor Bedenken: Russland bekäme dadurch ein
Vetorecht in allen die europäische Sicherheit betreffenden Fragen. Moskau seinerseits verlangt
präzise Informationen über die neuen Planungen für das Raketenabwehrsystem und die
Bedingungen für eine russische Beteiligung. Und den Verzicht auf die Stationierung »substanzieller«
Truppenkontingente in den osteuropäischen NATO-Staaten. Gebranntes Kind, weil der Westen in
den 90er Jahren wortbrüchig die Grenzen des Militärpakts mehrfach nach Osten verschob, besteht
Moskau auf verbindlichen Regelungen.
Die NATO wird kaum daran vorbeikommen. Zumal Medwedjew und Lawrow Rasmussen gegenüber
durchblicken ließen, dass davon auch abhängt, ob Moskau sich stärker in das Krisenmanagement in
Afghanistan einbringt. Denn Rasmussen verhandelte nicht nur über eine Erweiterung des
Eisenbahntransits von NATO-Gütern über russisches Territorium, Lieferungen russischer
Hubschrauber für den Krieg am Hindukusch und die Ausbildung afghanischer Drogenfahnder. Es
ging auch um gemeinsame Operationen von Spezialeinheiten. Den Testballon hatten beide Seiten
letzte Woche bei Kandahar an der Grenze zu Pakistan steigen lassen. Gemeinsam hatten sie ein
Heroin-Labor zerstört.
* Aus: Neues Deutschland, 4. November
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