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Die geheime Strategie

Wo die wirklichen Gefahren liegen

Von Olaf Standke *

55 Seiten lang ist das Papier der sogenannten Albright-Kommission – laut Karl-Heinz Kamp vom »NATO Defense College« Grundlage für die neue Strategie der Allianz, die auf dem Gipfel in Lissabon verabschiedet werden soll. Nur wenige Zeilen braucht es, um den Status des Nordatlantik-Paktes »als weltweit erfolgreichstes politisch-militärisches Bündnis« und seine hehren »demokratischen Grundsätze« zu feiern. Den gewählten Volksvertretern mit legislativer Kontrollpflicht allerdings wurde es auch hierzulande schwer gemacht, demokratisch mitzureden, wenn die sicherheitspolitischen Weichen für die nächste Dekade gestellt werden.

Als sich die Mitglieder des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses im Bundestag in einer Anhörung mit Experten mit dem Strategieentwurf von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen befassen wollten, gab es nicht alltägliche parteiübergreifende Empörung im Paul-Löbe-Haus: Weil die NATO-Führung das Dokument für geheim erklärt hatte, weigerte sich die Bundesregierung, es den Abgeordneten zur Kenntnis zu geben. Da werde ein Kuriosum inszeniert, kritisierte nicht nur der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Wolfgang Gehrcke. Er durfte später wie 13 weitere Kollegen in der Geheimschutzstelle Einblick nehmen.

Mit seiner Strategie müsse das Bündnis gezielter auf eine zunehmend diffuse Gefährdungslage reagieren, das heißt wendig und flexibel sein, sagte die einstige USA-Außenministerin Albright bei der Vorstellung des von der NATO in Auftrag gegebenen Reports. Zu den neuen Bedrohungen gehören nach Meinung der Kommission Raketenangriffe, Anschläge von Terroristen und Angriffe über das Internet, sogenannte Cyber-Attacken. Die NATO behalte sich auch weitere Einsätze außerhalb ihres Bündnisgebietes nach dem Beispiel Afghanistans vor, betonte Rasmussen. Dass es dabei letztlich um die Durchsetzung hegemonialer Machtambitionen und geostrategischer Interessen geht, hat Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gerade noch einmal deutlich gemacht, als er die Aufgabe der Bundeswehr als offensiven Interventionsauftrag im Dienste der deutschen Wirtschaft interpretierte: »Die Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen sind ohne Zweifel unter militärischen und globalstrategischen Gesichtspunkten zu betrachten.«

Kernstück des neuen Konzepts unter dem Titel »NATO 2020« soll eine eigene Raketenabwehr werden. »Diese Pläne dürfen nicht zu neuen Konfrontations- und Trennungslinien in Europa führen«, sagt Rolf Mützenich, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und fordert eine Einbeziehung Russlands. Zugleich setzen Albright und Rasmussen weiter auf die nukleare Abschreckung: »Solange Atomwaffen existieren, sollte die NATO sichere und verlässliche Nuklearkräfte behalten.« Damit scheiterte auch die Bundesregierung mit ihrem Versuch, die noch immer auf deutschem Boden lagernden US-amerikanischen Atombomben schnellstmöglich abzuziehen. Während Bundesaußenminister Guido Westerwelle gern »Abrüstung und Rüstungskontrolle« als »Markenzeichen« der NATO propagiert, entfielen zuletzt 65 Prozent der globalen Verteidigungsausgaben, 71 Prozent der weltweiten Rüstungsbeschaffungen und 80 Prozent aller Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung auf die Allianz.

Auch wenn bei der Anhörung im Bundestag mit Blick auf die NATO nur Wolfgang Gehrcke die Existenzfrage stellte – im Entwurf für ein neues Programm der LINKEN wird die Auflösung des Paktes und die Schaffung eines neuen »kollektiven Sicherheitssystems« unter Beteiligung Russlands gefordert –, an Kritik der geladenen Experten fehlte es nicht. Prof. Dr. Hans J. Gießmann etwa, der Direktor der Berghof Conflict Research, warnte davor, erkannte Risiken automatisch zu Bedrohungen zu erklären und präventive wie die Möglichkeiten partnerschaftlicher Kooperation – nicht zuletzt unter Einbeziehung einer gestärkten UNO – zur Risikominimierung zu vernachlässigen. Die völkerrechtliche Legitimierung von NATO-Einsätzen komme viel zu kurz. Matthias Dembinski von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung stellte den militärischen Sinn von Atomwaffen massiv in Frage und forderte wie andere Experten auch viel weiterreichende Überlegungen für eine engere Zusammenarbeit mit Russland, nicht nur in Sachen Raketenabwehr. Prof. Dr. Michael Brzoska vom Hamburger Friedensforschungsinstitut sieht in der Einstufung der hier geplanten Systeme als »essenzielle Mission« der NATO eine deutliche Überbewertung der zugrunde gelegten Gefährdungen und fragte, ob der Allianz da nicht innen- und industriepolitische Interessen der USA übergestülpt würden. Überhaupt verengten sich die angeführten Sicherheitsaspekte viel zu sehr auf militärische Szenarien – was auch fragen lässt, inwieweit diese Allianz eigentlich geeignet ist, Antworten auf die aus Klimaveränderungen, globaler Ungerechtigkeit, Hunger, Armut oder Flüchtlingselend erwachsenden Risiken zu finden. Frithjof Schmidt von den GRÜNEN etwa bezweifelte, dass die Energiesicherheit ein Problem der NATO sei.

Am Beispiel der »Cyber-Attacken« zeigte sich dann noch einmal parteiübergreifende Einigkeit im Löbe-Haus: Die meisten konnten nicht erkennen, warum und wie ein hochgerüstetes Militärbündnis auf diesem Feld über den eigenen Schutz hinaus nach Artikel V des NATO-Vertrages (Beistandspflicht) polizeiliche oder geheimdienstliche Aufgaben übernehmen sollte. Nicht allein für Paul Schäfer (LINKE) stellte sich da die Frage, ob es sich bei der neuen Bedrohungsanalyse der NATO nicht doch nur um eine neue Legitimationsstrategie handelt. Für die Friedensbewegung ist klar: Die Existenz eines Militärpakts trägt allein schon durch die hochgerüstete Abgrenzung von anderen Staaten zum beklagten Sicherheitsdilemma bei. Und wenn die NATO weiter »out of area« und ohne UN-Mandat intervenieren will, bleibt es auch mit einer vermeintlich neuen Strategie bei der alten Gefahr für den Frieden – weltweit.

* Olaf Standke ist Leiter des Ressorts Ausland der Tageszeitung »Neues Deutschland«.

Aus: Neues Deutschland, 12. November 2010 (Beilage)


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Geheime Kommandosache

Von Olaf Standke **

In einer Woche will sich die NATO eine neue Strategie geben. Gestern stand dieses Thema auf der Agenda des Bundestages. Nur dass die gewählten deutschen Volksvertreter in ihrer übergroßen Mehrheit den von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erarbeiteten Entwurf gar nicht kennen. Die Führung des Nordatlantik-Pakts hat ihr künftiges sicherheitspolitisches Konzept zur geheimen Kommandosache erklärt. Die Bundeswehr als Teil des größten Militärbündnisses der Gegenwart ist eine Parlamentsarmee, doch ihr Parlament muss außen vor bleiben, wenn es um essenzielle Fragen von Krieg und Frieden geht.

In der NATO wird oft über Werte und Demokratie geredet, die man verteidigt und gern auch in alle Welt trägt. Welch ein seltsames Demokratieverständnis, wenn zugleich den eigenen Parlamentariern das legislative Mitsprache- und Kontrollrecht praktisch verwehrt wird. Dabei wären grundlegende Änderungen mehr als überfällig.

Die NATO ist ein Kriegsbündnis, das am Hindukusch nicht unserer Freiheit verteidigt, sondern dem Terrorismus letztlich täglich neuen Nährboden schafft. Ein Pakt, der selbst mit der Drohung eines atomaren Erstschlags abschrecken will, wenn es um hegemoniale Machtambitionen, geostrategische Interessen und Rohstoffsicherung geht. Eine Militärallianz, nach allen Erfahrungen ungeeignet zu präventiver und politischer Konfliktlösung, dafür waffenstarrend und hochgerüstet, während die Millenniumsziele der Vereinten Nationen für die Armen dieser Welt nicht erfüllt werden. Bleibt das so, ist die NATO auch ungeeignet, unsere Sicherheit zu garantieren – und damit überflüssig.

* Aus: Neues Deutschland, 12. November 2010 (Kommentar)


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