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Ein Meisterstück diplomatischer Konsensbildung

Das neue strategische Konzept der NATO ist mehr als eine Fortschreibung des alten, aber weniger als ein Aufbruch zu neuen Ufern

Von Peter Strutynski

Seit dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation trat die aus dem Kalten Krieg siegreich hervorgegangene NATO in Ermangelung eines Gegners in einen Wettlauf mit sich selbst ein: Programmatische Festlegungen der Allianz wurden regelmäßig von ihrer Praxis überholt und das folgende strategische Konzept bestätigte nachträglich die enteilte Realität - ohne darauf zu verzichten, ihrerseits einen Schritt weiter nach vorn zu denken. Das zeigte sich an der Gipfelerklärung von Rom 1991, als die NATO sich von der Militärstrategie der „flexible response“ auf einen breit angelegten konventionellen Angriff aus dem Osten verabschiedete und neue, teils bekannte, teils unbekannte Risiken und Bedrohungen erfand. Solche Risiken bestanden z.B. in der Zunahme des internationalen Terrorismus, der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Unterbrechung der Zufuhr von Rohstoffen oder der Behinderung des freien Welthandels. Die Osterweiterung der NATO in den 90er Jahren schuf neue Fakten und dehnte das Bündnis bis an die Grenzen Russlands aus – wobei die Vereinbarung mit Gorbatschow, das Gebiet der 1990 in die BRD einverleibte DDR nicht in die NATO zu integrieren, nicht eingehalten wurde. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 stellte einen zweifachen Bruch des NATO-Vertrags von 1949 dar: Einmal handelte es sich eindeutig um einen unzulässigen Angriffskrieg und zum anderen sprengte er die geografische Eingrenzung des NATO-Operationsgebiets auf den transatlantischen Raum nördlich des Wendekreises des Krebses, wie es Art. 6 des NATO-Vertrags vorschrieb. In späteren Dokumenten wurden Militäreinsätze der NATO, die nicht der Bündnisverteidigung dienten – wozu Art. 5 eine Handhabe bot – einfach zu „Nicht-Artikel-5-Operationen“ erklärt. Mit dem seit 2001 geführten Afghanistankrieg und den Einsätzen im Rahmen von „Operation Enduring Freedom“ und „Active Endeavour“ am Horn von Afrika und im Mittelmeer erweiterte die NATO ihr Handlungsspektrum um die Dimension des „Krieges gegen den internationalen Terrorismus“. Die mit einer gigantischen Armada von Kriegsschiffen der NATO und der EU vorgetragene Jagd auf Piraten vor den Küsten Somalias komplettiert schließlich die Liste der „innovativen“ Instrumente der NATO. Auch sie fanden nachträglich ihren Platz im strategischen Konzept der NATO – in Lissabon 2010.

Das neue Strategische Konzept, verabschiedet auf dem NATO-Gipfel am 19. November 2010 in Lissabon, stellt den Versuch dar, die bisher geübte Praxis der Allianz schriftlich zu fixieren und zugleich neue Aufgaben zu formulieren, die künftig praktisch wirksam werden können. Dabei gibt sich die NATO zunächst traditionsbewusst. Sie betont ihre „einzigartige und wesentliche Rolle bei der Sicherung unserer gemeinsamen Verteidigung und Sicherheit“ und weist auf den ursprünglichen Zweck der NATO hin, sich gemeinsam gegen Angriffe auf einen oder mehrere Bündnispartner zu verteidigen. „Während sich die Welt verändert“, so heißt es im Vorwort des Konzepts, „bleibt der wesentliche Auftrag der NATO derselbe: sicherzustellen, dass die Allianz eine unvergleichliche Gemeinschaft der Freiheit, des Friedens der Sicherheit und der gemeinsamen Wertebleibt.“

Dieses „einzigartige“ Bündnis muss drei Kernaufgaben erfüllen: die kollektive Verteidigung in Übereinstimmung mit Art. 5 des Washingtoner Vertrags (1), das Krisenmanagement, das sich auf die Konfliktbearbeitung vor, während und nach Konflikten bezieht (2), sowie die „gemeinsame Sicherheit“, die auf politische und sicherheitsrelevante Entwicklungen „jenseits ihrer Grenzen“ abzielt (3).

Die Lageeinschätzung der NATO

Doch wie es sich für ein strategisches Konzept einer Militärorganisation gehört, wird zunächst eine Lageeinschätzung des „Sicherheitsumfelds“ vorgenommen (Ziff. 7-15). Dabei wird von der Tatsache ausgegangen, dass das Risiko eines konventionellen Angriffs auf das NATO-Gebiet niedrig ist – ein historisches Ergebnis der Politik der „robusten Verteidigung, der euro-atlantischen Integration und aktiven Partnerschaft“, von der sich die NATO ein halbes Jahrhundert hat leiten lassen. Gleichwohl dürfe die konventionelle Bedrohung nicht ignoriert werden. Viele Regionen und Staaten rund um den Erdball seien Zeugen des Strebens nach „substanziellen modernen militärischen Fähigkeiten“ – mit Folgen für die internationale Stabilität, die nur schwer vorherzusehen sein. Eine prominente Rolle spiele hierbei die Verbreitung ballistischer Raketen, die eine wachsende Bedrohung für das euro-atlantische Gebiet darstellen (Ziff. 8). Ähnliches gelte für die Verbreitung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme. Gerade in einigen der unsichersten Regionen („most volatileregions“) werde die Proliferation im nächsten Jahrzehnt „sehr akut“ bleiben (Ziff. 9).

Verschwiegen werden in dem Konzept zwei Entwicklungen, die ursächlich auf Kappe der NATO selbst gehen: Einmal sind NATO-Staaten, allen voran die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien maßgeblich selbst an der Versorgung der Welt mit Waffen und modernem Kriegsgerät beteiligt. Die Rangliste der größten Rüstungsexporteure der Welt wird nicht zufällig von diesen vier Ländern angeführt, lediglich Nicht-NATO-Mitglied Russland kann sich auf Platz zwei hinter den USA noch behaupten. Zum zweiten darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die weltweiten Militär-und Rüstungsausgaben sehr asymmetrisch auf die NATO- und die übrige Welt verteilen. Allein auf die USA entfallen nach SIPRI-Angaben 43 Prozent der weltweiten Militärausgaben, alle 28 NATO-Staaten zusammen kommen auf 64 Prozent. Reinhard Mutz hat in einem Beitrag für das NDR-Magazin „Streitkräfte und Strategien“ (20.11.2010) noch die vier wichtigsten „Security provider“ außerhalb des NATO-Vertragsgebiets dazu gezählt: Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea. Mit ihnen zusammen käme der „Westen“ schon auf 71 Prozent des Weltrüstungsaufkommens. Der Rest der Welt, rund 160 Staaten mit einem Weltbevölkerungsanteil von 85 Prozent, bringt es dagegen nur auf 29 Prozent der Militärausgaben.

Eine Lagebeurteilung mag die Instabilitäten und Risiken relativ genau beschreiben. Sie bleibt aber unvollständig – und letztlich irreführend – wenn sie nicht auch nach den Ursachen der beschriebenen Entwicklungen fragt. Dieses Manko weist das NATO-Konzept auch bei der Darstellung weiterer Risiken und Bedrohungen auf. So wird etwa festgestellt, dass der Terrorismus und „extremistische Gruppen“, die eine direkte Bedrohung der Sicherheit der NATO-Staaten und der internationalen Stabilität darstellen, sich weiter ausbreiten und sich in den Besitz von moderner Technologie und von Massenvernichtungsmitteln zu bringen versuchen (Ziff.10). Kein Wort über die gesellschaftlichen Ursachen und den sozio-kulturellen Nährboden des Terrorismus in diesem Papier! Kein Wort auch über die Ursachen regionaler Instabilitäten und Konflikte „jenseits der NATO-Grenzen“ (Ziff.11). Die sich häufenden Angriffe aus dem Internet auf Regierungseinrichtungen, Unternehmen, Wirtschaft und Transport- und Versorgungsnetzwerke können ebenfalls „Wohlstand, Sicherheit und Stabilität“ im euroatlantischen Raum bedrohen (Ziff.12). Größere globale Auswirkungen können auch bedeutsame technologische Trends haben – einschließlich der Entwicklung von Laserwaffen, elektronischer Kriegführung und weltraumgestützter Technologien. Allemal Gründe für militärische Planung und Operationen (Ziff. 14).

In die Kategorie der unverstandenen Risiken und Bedrohungen gehört auch die Aufzählung weiterer Merkmale oder Begleiterscheinungen der modernen Welt, so etwa die zunehmende Abhängigkeit (und daraus resultierend: Verwundbarkeit) des internationalen Handels, der Energiesicherheit und des Wohlstands von „lebenswichtigen Kommunikations- Transport- und Transitwegen“ (Ziff. 13) oder Umwelt- und Ressourcenbeschränkungen „einschließlich gesundheitlicher Risiken, Klimawandel, Wasserknappheit und wachsender Energiebedarf“ (Ziff. 15). Solche Punkte gehören zweifellos zu einer Zustandsbeschreibung der Welt. Wenn aber die Ursachen und die Verursacher dieser Probleme nicht identifiziert werden, lassen sich auch keine adäquaten Ansatzpunkte zu ihrer Lösung finden. Eine wirkliche Ursachenanalyse würde zu dem Ergebnis kommen, dass die genannten Probleme sich einer militärischen Bearbeitung entziehen. Sie sind ziviler Art und lassen sich folglich auch nur mit zivilen, nicht-militärischen Mitteln bearbeiten. Wenn die NATO nun aber doch in diesen Bereichen wildert, dann hat das ausschließlich legitimatorische Gründe: Seit dem mächtigsten Militärbündnis der Welt 1990/91 der Gegner abhanden gekommen war, sucht die NATO nach neuen sinngebenden Betätigungs- und Einsatzfeldern. Im Zuge dieser Suche wurden immer mehr zivile Felder „versicherheitlicht“, d.h. zum Gegenstand militärischer Überlegungen.

(1) „Verteidigung und Abschreckung“

So ist die erste der drei Kernaufgaben der NATO überschrieben. In Anlehnung an den Washingtoner Vertrag von 1949 wird auf die „allergrößte Verantwortung“ des Bündnisses verwiesen, „unser Territorium und unsere Bevölkerung“ zu schützen und gegen einen Angriff zu verteidigen (Ziff. 16). In dem Zusammenhang ist der Verweis auf Art. 5 des Washingtoner Vertrags von erheblicher Bedeutung. Alle in diesem Abschnitt verhandelten Bedrohungen sind damit nämlich potenziell Gegenstand und Anlass von Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen des Bündnisses im Rahmen von Art. 5.

Abschreckung selbst beruht auf einem „Mix von nuklearen und konventionellen Fähigkeiten und stellt das Herzstück der Gesamtstrategie der NATO dar. Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen – im strategischen Konzept von 1999 noch vorhanden - wird nicht mehr erwähnt. Als Option bleibt er aber bestehen, wie der folgende Passus aus Ziff. 17 unzweideutig unterstreicht: „Die Bedingungen, unter denen der Gebrauch von Nuklearwaffen in Erwägung gezogen werden könnte, sind weit entfernt.“ Weit entfernt scheint demnach auch die Verminderung der Atomwaffenarsenale. Zwar wird im Vorwort etwas gewunden formuliert, dass sich auch die NATO dem „Ziel der Schaffung von Bedingungen für eine atomwaffenfreien Welt“ verpflichtet weiß, dass sie aber, solange es Atomwaffen in der Welt gibt, ein „nukleares Bündnis bleibt“. Solange nun aber die NATO selbst bzw. einzelne ihrer Mitglieder ihre Atomwaffen nicht aufgeben, bleibt auch die Voraussetzung für das nukleare Bündnis gegeben. Dies umso mehr, als in Ziff. 18 neben dem US-Nukleararsenal ausdrücklich auch die „unabhängigen strategischen britischen und französischen Atomstreitkräfte“ erwähnt werden, die mit ihrer ihnen eigenen Abschreckungswirkung zur Sicherheit aller Verbündeten beitrügen. Mit anderen Worten: Solange z.B. Frankreich auf seiner force de frappe besteht, hat die NATO Grund ein nukleares Bündnis zu bleiben. „Global zero“ bleibt ein wohlfeiles Versprechen für den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Neben der nuklearen Abschreckungskapazität hat die NATO alle Fähigkeiten vorzuhalten, die notwendig sind, um sich gegen „jegliche Bedrohung der Sicherheit unserer Bevölkerung“ zu verteidigen (Ziff. 19). Dies betrifft beispielsweise die Aufrechterhaltung einer „angemessenen Mischung aus nuklearen und konventionellen Streitkräften“. Letztere müssen so „robust, mobil und verlegbar“ sein, dass sie sowohl die Aufgaben nach Art. 5 des NATO-Vertrags als auch andere Einsätze („expeditionary operations“) der Allianz erledigen können, was den Rückgriff auf die NATO-Response Force einschließt. Ohne es so zu nennen, sind hier die „Nicht-Artikel-5-Operationen“ angesprochen, die somit zum selbstverständlichen Aufgabenbereich der NATO gehören sollen.

Welcher Art sind nun die Bedrohungen, gegen die das ganze Spektrum der NATO-Abschreckungs- und –Verteidigungskräfte zur Anwendung kommen soll? Es sind – in dieser Reihenfolge und damit wohl auch Gewichtung – folgende Bereiche (alle nach Ziff. 19):
  • ein zentrales Element der kollektiven Verteidigung der NATO sei die Verteidigung gegen Angriffe mit ballistischen Raketen; die Raketenabwehr, als US-Projekt lange Zeit in der NATO wegen der indirekten Stoßrichtung gegen Russland umstritten und erst auf dem Bukarest-Gipfel 2008 als Bündnisaufgabe anerkannt, solle in „Kooperation mit Russland und anderen euro-atlantischen Partnern“ aufgebaut werden;
  • es müssten Fähigkeiten entwickelt werden, um sich gegen die Bedrohung durch chemische, biologische, radiologische und nukleare Massenvernichtungswaffen zu schützen;
  • die NATO müsse sich in die Lage versetzen, Cyber-Attacken „verhüten, aufspüren und abwehren“ zu können; dazu sollten die nationalen Einrichtungen koordiniert und unter einem gemeinsamen Dach zentralisiert werden;
  • die NATO werde ihre Fähigkeiten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus verstärken; neben der verbesserten Analyse der Terror-Risiken und mehr Beratungen der Mitgliedstaaten müssten geeignete „militärische Fähigkeiten“ entwickelt werden – auch in Hinblick auf die Ausbildung einheimischer Antiterror-Streitkräfte;
  • die NATO müsse auch einen Beitrag zur Energiesicherheit leisten; dies schließt den Schutz wichtiger Infrastruktureinrichtungen und Transitgebiete und -linien ein;
  • schließlich müsse die NATO die Bedeutung neuer Technologien für den Sicherheitssektor abschätzen und mögliche Gefährdungen kalkulieren können.
Um all diesen zum Teil vagen oder unsichtbaren Risiken und Bedrohungen (zur Unterscheidung beider Begriffe vgl. Giessmann 2010) begegnen zu können, müssen die bewaffneten Streitkräfte der Allianz ausreichend ausgerüstet und die Verteidigungsausgaben auf einem entsprechenden Niveau gehalten werden.

(2) „Sicherheit durch Krisenmanagement“

Krisen und Konflikte jenseits der NATO-Grenzen können eine direkte Bedrohung für die Sicherheit ihrer Mitglieder darstellen. Aus diesem Grund werde sich das Bündnis – wenn es möglich und notwendig erscheint – engagieren, um Krisen zu verhüten oder zu bearbeiten, Post-Konflikt-Situationen zu „stabilisieren“ und den Wiederaufbau zu unterstützen (Ziff. 20). Dies gilt grundsätzlich für die ganze Welt. Die wichtigste Lehre aus den Einsätzen in Afghanistan und auf dem Balkan bestünde darin, dass ein effektives Krisenmanagement einen umfassenden politischen, zivilen und militärischen Ansatz voraussetze. Während die Konfliktprävention vor allem einer kontinuierlichen Beobachtung und Analyse des internationalen Umfelds bedarf und die Konfliktnachsorge darin bestehen müsse, in Kooperation mit anderen Partnern Bedingungen für eine dauerhafte Stabilität zu schaffen, kann die Konfliktbearbeitung, d.h. das Eingreifen in bestehende bewaffnete Feindseligkeiten, auf die „einzigartigen“ Fähigkeiten der NATO bauen, robuste militärische Streitkräfte vor Ort zu stationieren (Ziff. 23). Die dafür einzuleitenden Maßnahmen betreffen z.B. die Verbesserung der Interventionskräfte einschließlich derjenigen zur Aufstandsbekämpfung, aber auch der „maßvolle“ Aufbau von zivilen Krisenbearbeitungskapazitäten sowie die verstärkte zivil-militärische Planung während des ganzen Krisen-Zyklus.

(3) Internationale Sicherheit durch Kooperation

Die globale Zuständigkeit der NATO kann, muss aber nicht unbedingt zu eigenen militärischen oder zivil-militärischen Operationen führen. Vielmehr bedient sich die NATO zunehmend bestehender internationaler Regime (z.B. Rüstungskontrollvereinbarungen wie dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag), bestehender oder noch zu gründender Partnerschaften (insbesondere der mit Russland) und der Weiterverfolgung der Erweiterungspläne. Die NATO, so heißt es in Ziff. 27, sei bereit, „eventuell“ alle europäischen Staaten, die das wollen, in die „euro-atlantischen Strukturen zu integrieren“. Eintrittsvoraussetzungen sind, dass es sich um „Demokratien“ handelt, die dieselben Werte mit der NATO teilen und auch bereit sind, die Verpflichtungen der Mitgliedschaft zu erfüllen. Einen Beitrittsanspruch hat aber niemand. Denn über eine Aufnahmebedingung entscheidet die NATO nach eigenem Gutdünken: Die Aufnahme muss einen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit und Stabilität leisten.

So relativiert sich die Politik der „open door“. Sowohl in NATO-Kreisen als auch unter Politikexperten herrscht weitgehend Einigkeit darin, dass es in absehbarer Zeit zu keiner Erweiterung der NATO-28 kommen wird. Nicht einmal die Aufnahmegarantie für Ukraine und Georgien – im Abschlussdokument des NATO-Gipfels von Bukarest erwähnt – wird sich so bald umsetzen lassen. Beide Länder werden zwar auch im Strategischen Konzept erwähnt, allerdings nicht unter dem Abschnitt „open door“, sondern erst später im Zusammenhang mit den „Partnerschaften für den Frieden“ (Ziff. 35). Achten die einen darauf, Russland nicht noch weiter zu brüskieren und von der NATO weg zu treiben anstatt näher an die NATO heran zu führen, so fürchten die anderen ein militärisches und politisches „overstretch“ des Bündnisses. The lesson learned aus Afghanistan ist nämlich auch, dass die kriegsstrategischen Wendungen der Führungsmacht USA längst nicht von allen NATO-Partnern nachvollzogen wurden, manche sogar eigene Abzugspläne geschmiedet (Kanada) oder schon vollzogen haben (Niederlande) – und das, obwohl der Afghanistan-Einsatz offiziell als kollektive Verteidigungsmaßnahme im Rahmen des Art. 5 des NATO-Vertrags ausgegeben wird, immerhin der erste und bisher einzige „Bündnisfall“ in der über 60-jährigen Geschichte der NATO. Eine dritte Gruppe – die sich allerdings schwer identifizieren lässt – mag lieber an der Stärkung der europäischen Militärunion als einem eigenständig, d.h. vor allem unabhängig von den USA handelnden Projekt basteln. Entgegen anderslautenden Beschwichtigungserklärungen europäischer Politiker/innen dürften die zum Teil demütigenden Wikileaks-Veröffentlichungen ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Das Vertrauen zwischen den USA auf der einen und eine Reihe europäischer Staaten auf der anderen Seite dürfte anhaltenden Schaden genommen haben.

Eine „Globalisierung“ der NATO wird nicht über die Aufnahme neuer Mitglieder aus verschiedenen Erdteilen erfolgen, sondern über die Errichtung eines Netzes aus „Partnerschaften“ mit „Staaten und Organisationen aus aller Welt“ (Ziff. 28). Diese Partnerschaften erstrecken sich nicht nur auf den Dialog und gegenseitige Konsultationen über Sicherheitsfragen von allgemeinem Interesse, sondern ausdrücklich auch auf gemeinsame „NATO-geführte Missionen“, also Militäreinsätze.

Es sagt viel aus über die Selbsteinschätzung der NATO, wenn zwei „Partner“-Organisationen besonders hervorgehoben werden: Es sind dies die Vereinten Nationen und die Europäische Union. In der Kooperation mit der UNO in Form von Militäroperationen in der ganzen Welt sieht die NATO einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit. Vorgeschlagen werden eine stärkere Verbindung zwischen den beiden „Hauptquartieren“, mehr reguläre politische Konsultationen und eine verstärkte praktische Kooperation bei der Krisenbewältigung dort, „wo beide Organisationen engagiert sind“. Es ist mehr als bemerkenswert, wenn sich die NATO als Militärpakt mit dem umfassenden UN-System der Staatenwelt, dem die NATO-Staaten angehören, auf eine Stufe stellt. Diese Gleichsetzung, die jeder völkerrechtlichen Substantiierung entbehrt, hat indes die UNO, bzw. ihr Generalsekretär selbst verschuldet. Am 23. September 2008 haben nämlich die Generalsekretäre der UNO und der NATO, Ban Ki-moon und Jaap de Hoop-Scheffer, ein Abkommen geschlossen, in dem es um eine „erweiterte Beratung“ und „operative Zusammenarbeit“ wie zum Beispiel bei der „Friedenserhaltung“ auf dem Balkan und in Afghanistan geht. Beide Generalsekretäre verpflichten sich, bei Bedrohungen und Herausforderungen gemeinsam vorzugehen. Dieses Abkommen wurde insbesondere von russischer Seite heftig kritisiert: Serge Lavrov, ehemaliger russischer Botschafter bei der UNO in New York und jetziger Außenminister Russlands war darüber „schockiert“, dass ein solches Abkommen im Geheimen und ohne Konsultation unterschrieben worden ist, und der russische Botschafter bei der NATO in Brüssel, Dmitry Rogozin, bezeichnet es rundweg als „illegal“. (Siehe Sponeck 2009, S. 128)

Ebenso viel Aufmerksamkeit widmet die NATO der „strategischen“ Partnerschaft mit der Europäischen Union. Mit dem Lissabon-Vertrag habe die EU die Grundlage geschaffen für den Aufbau von Kapazitäten, mit denen den gemeinsamen Sicherheitsherausforderungen begegnet werden könne (Art. 32). So können NATO und EU komplementäre und wechselnde Beiträge zum Frieden und zur internationalen Sicherheit leisten. Diese Zusammenarbeit beziehe sich sowohl auf praktische „Operationen“ bezüglich des ganzen „Krisenspektrums“ als auch auf eine Koordinierung der beiderseitigen militärischen Fähigkeiten.

Auch die Partnerschaft mit Russland ist für die NATO von „strategischem“ Interesse. Diese Partnerschaft basiere auf den Prinzipien und Vereinbarungen der NATO-Russland-Gründungs-Akte und der Römischen Erklärung, insbesondere was die Respektierung von Demokratie und Souveränität, Unabhängigkeit und territorialer Integrität aller Staaten in der euro-atlantischen Region betrifft (Ziff. 34). „Gemeinsame Interessen“ zwischen NATO und Russland lägen z.B. vor hinsichtlich der Raketenabwehr, dem Kampf gegen Terrorismus, Drogenhandel und Piraterie. Alle diese Punkte sind dann ja auch in das gemeinsame Communiqué des NATO-Russland-Rats eingeflossen, der einen Tag nach dem NATO-Gipfel in Lissabon zusammentrat.

Schließlich werden Partnerschaften „vertieft“ oder „angestrebt“ mit Ukraine und Georgien, mit Ländern des westlichen Balkan, mit Mittelmeer-Anrainerstaaten sowie mit „unseren Golf-Partnern“ und den „neuen Partnern“ der Istanbul-Kooperation.

So vage diese Absichtserklärungen sind, so konkret sind die abschließenden Vereinbarungen der NATO zur Effizienzsteigerung ihrer militärischen Fähigkeiten. So verpflichten sich die 28 Mitgliedstaaten, die Verlegungsfähigkeit ihrer Streitkräfte zu erhöhen und ihre Fähigkeit zu Kampfeinsätzen aufrecht zu erhalten, unnötige Duplikationen bei der Ausrüstung zu vermeiden, mehr gemeinsame Einsätze durchzuführen – auch um „Solidarität“ zu zeigen – und den Prozess der kontinuierlichen Reformierung der NATO weiter zu führen.

Fazit

Es lag in der Absicht der führenden Kreise der NATO, das strategische Konzept des Bündnisses für das kommende Jahrzehnt möglichst knapp und allgemein zu halten, sodass wichtige Ziele zwar nicht im Detail vorgegeben, aber als Option durchaus in ihm enthalten sind. Das Konzept von 1999 war konkreter, insbesondere was die Ausweitung des Einsatzgebietes „out of area“ und die nukleare Einsatzdoktrin (das „Recht“ auf Ersteinsatz) betraf. Auch wenn die NATO den Schritt zu einer globalen Organisation nicht vollzog – mit Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea stünden mindestens vier potenzielle Beitrittsländer bereit -, nimmt sie für sich in Anspruch, global zu handeln. Und auch wenn der (Erst-)Einsatz von Atomwaffen in sehr weite Ferne gerückt ist, wird er nicht ausgeschlossen. Auch andere kritische Punkte werden durch teils kryptische, teils schwammige Formulierungen mehr oder weniger elegant umschifft; so wenn etwa die Raketenabwehr als NATO-Projekt beschlossen, der offensichtliche Gegner Iran aber nicht erwähnt und der Kontrahent Russland zur Mitarbeit aufgefordert wird – ohne ihm allerdings irgendwelche Entscheidungsrechte zuzubilligen. Die Aussagen schließlich zu den diversen Partnerschaften, welche die NATO fortführt bzw. anstrebt, sind an diplomatischer Lyrik kaum zu übertreffen: Der Eindruck wird erweckt, als sei die NATO eine dem Frieden und der internationalen Sicherheit verpflichtete Organisation gegenseitiger kollektiver Sicherheit - obwohl ihr gerade die „Gegenseitigkeit“ fehlt – und als sei sie strukturell den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union vergleichbar. Ein Militärbündnis auf Samtpfoten! In Wirklichkeit bleibt sie ein ordinärer Militärpakt, der, weil er seit dem Ende der Blockkonfrontation militärisch nichts mehr zu verteidigen hat, überwiegend aggressive Absichten verfolgt. Hierfür kann er jederzeit auch seine Krallen ausfahren.

Literatur
  • BMV-Der Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.)(1991): Die NATO-Gipfelkonferenz von Rom. Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 7. und 8. November 1991, in: Informationen zur Sicherheitspolitik, November
  • BMV-Der Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.)(1992): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Bonn
  • BMV-Der Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.)(1994): Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn
  • BMV-Der Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.)(2003): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Bonn
  • Cremer, Uli (2010): NATO 3.0 oder NATO 2.1? In: Sozialismus, Heft 12, 5-7
  • Gießmann, Hans J. (2010): Stellungnahme. Öffentliche Anhörung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages zum Thema: Das neue strategische Konzept der NATO, Berlin, den 6.10.2010 (unv. Ms.)
  • Mutz, Reinhard (2010): Mehr Rüstung, weniger Risikobewusstsein – keine Thema für das neue strategische Konzept der NATO? In: Streitkräfte und Strategien, NDR, 20.11.2010; www.ag-friedensforschung.de
  • NATO (2010): Active Engagement, Modern Defence. “Strategic Concept For the Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation”. Adopted by Heads of State and Government in Lisbon
  • Nordatlantikvertrag 1949, in: Völkerrechtliche Verträge, hrsg. von Albrecht Randelzhofer, München 2010, 86-88
  • Sponeck, Hans von (2009): UNO und NATO: Welche Sicherheit und für wen? In: Luedtke, Ralph-M., Strutynski, Peter (Hg.), Deutschland im Krieg. Transatlantischer Imperialismus, NATO und EU, Kassel, 125-131
  • Strutynski, Peter (2009): Die Globalisierung der NATO – oder: Die Militarisierung des Globus, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.), Projektleitung: Ronald H. Tuschl, Friedensbericht 2009, 64-87
  • Strutynski, Peter (2010): NATO im Wandel – Das größte Militärbündnis der Geschichte auf der Suche nach einer neuen Strategie, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, Projektleitung Ronald H. Tuschl (Hg.), Demokratie im globalen Wandel. Eine Welt im demokratischen Aufbruch? Friedensbericht 2010, Münster usw., 183-195



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