Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die neue "Speerspitze" der NATO

Gipfeltreffen der Allianz in Wales will einen »Aktionsplan« für Osteuropa beschließen

Von Olaf Standke *

USA-Präsident Barack Obama hat sich vor dem NATO-Gipfel für den Ausbau der Schnellen Eingreiftruppe ausgesprochen. Auch im Baltikum müsse die notwendige Infrastruktur geschaffen werden.

Barack Obama sparte am Mittwoch in Tallinn nicht mit großen Worten. Nie werde Estland allein stehen, unzerbrechlich, felsenfest und ewig werde der Beistand der Vereinigten Staaten für den kleinen baltischen Staat sein, da sei Artikel 5 des NATO-Vertrags vor. Dort wird der sogenannte Bündnisfall beschrieben, wonach der Angriff auf ein Mitgliedstaat ein Angriff auf alle ist. Obama kündigte unter anderem »zusätzliche US-Luftwaffeneinheiten« für die NATO-Luftüberwachungsmission Air Policing Baltikum an.

Vor dem Hintergrund der eskalierenden Ukraine-Krise, die zur schärfsten Konfrontation der Allianz mit Russland seit Ende des Kalten Krieges geführt hat, umriss der Präsident auf seiner ersten Reise ins Baltikum damit auch den entscheidenden Tagesordnungspunkt des NATO-Gipfels, der am Donnerstag im walisischen Newport beginnt – unter schärfsten Sicherheitsbedingungen. Fast 10 000 Polizisten aus ganz Großbritannien und gut 20 Kilometer Sicherheitszäune sollen die 28 Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten und viele weitere Politiker aus aller Herren Länder schützen. Auch vor den Friedensaktivisten, die schon am Wochenende in Newport demonstriert haben und jetzt auf einem Gegengipfel in Cardiff ihre Kritik am weltgrößten Kriegsbündnis formulieren.

NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner, das ist die Kernbotschaft der »Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit«, die beide Seiten 1997 unterzeichnet und so gleichsam das Ende des Ost-West-Konflikts noch einmal besiegelt hatten. Nicht nur Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves stellt wegen der »russischen Militärintervention in der Ostukraine« diese Vereinbarung nun in Frage.

Andere im Nordatlantikpakt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel wollen an den bestehenden Verträgen mit Moskau (noch) nicht rütteln. Doch einhellig ist die Meinung, das man militärische Pflöcke gegen Russland einrammen müsse. Kritische Selbstreflexion kommt in diesem Konzept nicht vor. Dabei hat sogar der ehemalige NATO-General Harald Kujat der Allianz gerade schwere Fehler im Umgang mit Russland in der Ukraine-Krise vorgeworfen. Nicht nur Moskau, auch der Westen habe sich in eine Sackgasse manövriert. Beide Seiten müssten miteinander reden, besonders in der jetzigen Situation.

»Zurück zu den Wurzeln, zurück zur gemeinsamen Verteidigung«, nämlich gegen den wieder auferstandenen Erzfeind – so verkauft man in der NATO die neue alte Strategie des Paktes. Man könnte aber auch von der offenen Rückkehr zur »Vorwärtsverteidigung« sprechen. Denn die seit Jahren andauernde Ostausdehnung der NATO Richtung Russland soll nun eine militärische »Speerspitze« bekommen.

Nicht nur mehr Jagdflugzeuge als bisher zur Kontrolle des Luftraums der drei baltischen Staaten, nicht nur mehr Manöver im Ostseeraum und im Schwarzen Meer – der »Aktionsplan« (Readiness Action Plan), der in Newport auf dem Tisch liegt, soll die NATO-Präsenz in Osteuropa dauerhaft verstärken und die Reaktionsfähigkeit dieser Truppen drastisch erhöhen. Was neue Stützpunkte an Russlands Grenzen in den baltischen Staaten, in Polen, in Rumänien samt Stationierung von Waffen, Munition, Fahrzeugen und Sprit ebenso erfordere wie die Modernisierung von Häfen und Flughäfen in der Region.

Eine neue bis zu mehrere tausend Soldaten starke Spezialtruppe (Very High Readiness Joint Task Force) soll die bestehende, aber noch nie eingesetzte 40 000 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe (Nato Response Force) ergänzen. Nur noch maximal zwei, drei Tage soll es dauern, bis die Verbände aus verschiedenen Bündnisstaaten bei einem bedrohten Partner einsatzbereit sind. Hinzu kommt noch eine »Kriseninterventionstruppe«, die sieben NATO-Staaten unter Führung Großbritanniens zusätzlich planen. Und es gibt ja ohnehin die Pläne für eine Raketenabwehr an Russlands Grenzen.

Nur – wer soll das alles bezahlen? So dürfte in Newport wohl mehr noch als die von den baltischen Mitgliedern, Polen und Kanada geforderte Aufkündigung der NATO-Russland-Akte die von der NATO-Spitze und Washington massiv geforderte Aufstockung der Militärausgaben in der Allianz umstritten sein. Derzeit entfallen davon auf die USA, die rund vier Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in Rüstung und Soldaten stecken, etwa 70 Prozent. Die große Mehrheit der europäischen Partner erreicht die angestrebten zwei Prozent des BIP nicht. Dabei gaben die NATO-Staaten schon 2013 etwa 1,023 Billionen US-Dollar für ihr Militär aus; Russland rund 88 Milliarden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014

Der Falke geht

Stoltenberg folgt Rasmussen als NATO-Generalsekretär

Von Olaf Standke


Wladimir Putin wird in diesen Tagen im Westen gern einschüchternde Macho-Politik vorgeworfen. Aber schon lange vermittelt der scheidende NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen den Eindruck, als wolle er in seiner Wortwahl mit Anleihen aus dem Kalten Krieg den russischen Präsidenten unbedingt übertreffen. Selbst Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einer regierungsnahen Berliner »Denkfabrik«, kritisierte ihn für seine »verantwortungslose Politik des Verbalradikalismus«.

Der einstige dänische Ministerpräsident stand seit 2009 an der politischen Spitze des Nordatlantikpaktes und präsentierte sich stets als Falke und Stimme Washingtons. Kein Wunder, schließlich soll der Ex-Präsident George W. Bush persönlich bei seinem Nachfolger Barack Obama zugunsten Rasmussens interveniert haben, hatte der sich doch im Anti-Terrorkrieg der USA bedingungslos an die Seite der NATO-Führungsmacht gestellt. Die Forderung an die europäischen Verbündeten nach höheren Militärausgaben zieht sich wie ein roter Faden durch sein Amtszeit; heute erhebt er sie mehr denn je, brauche man doch als Bündnis eine neue »Speerspitze« gegen »Aggressoren«. Gemeint ist Russland.

Töne, die man sich von seinem Nachfolger so kaum vorstellen kann. Jens Stoltenberg wurde nach seiner Wahl zwar auch in Washington als bestens geeignet gepriesen, die Stärke und Einheit der Allianz zu gewährleisten. Doch der 55-Jährige Sozialdemokrat und frühere norwegische Ministerpräsident gilt als ruhig und besonnen. Er war Wirtschafts- und Finanzminister und schon mit 41 erstmals Regierungschef in Oslo. Aber Menschen ändern sich ja auch: Als Student und damals designierter Juso-Vorsitzender hatte sich Stoltenberg noch für den Austritt Norwegens aus der NATO stark gemacht, um den Weltfrieden zu stärken. Ab 1. Oktober ist er nun als 13. Generalsekretär der Allianz das politische Gesicht des größten Militärbündnisses der Welt.

Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014



Moskau fühlt sich provoziert

Vorrücken der NATO bis an Russlands Grenzen ein »strategisches Schlüsselproblem«

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Selbst wenn Gespräche zwischen Moskau und Kiew bis zum NATO-Gipfel zu konkreten Ergebnissen führen sollten, dürften sie auf das Grundrauschen der Debatte in Wales kaum Einfluss nehmen.

Unmittelbar vor dem Gipfel hatte die Allianz angekündigt, ihre militärische Präsenz in Osteuropa deutlich zu verstärken und in der Westukraine Mitte September Manöver mit mehr als 1000 Soldaten abzuhalten. Eine andere Übung begann schon am Mittwoch in Tschechien. Moskau fühlt sich provoziert, das Verteidigungsministerium kündigte zu Monatsende eigene Manöver der sogenannten Strategischen Truppen ein. Das sind Einheiten, die über Interkontinentalraketen mit Kernsprengköpfen verfügen. An der Übung sollen über 4000 Soldaten teilnehmen, darunter auch Einheiten der Luftwaffe.

Der Vizekoordinator des russischen Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Popow, bezeichnete jetzt das Vordringen der militärischen Infrastruktur der NATO bis an Russlands Grenzen als »strategisches Schlüsselproblem«. Beobachter gehen davon aus, dass Präsident Wladimir Putin selbst gleich nach dem NATO-Gipfel die Öffentlichkeit über Gegenmaßnahmen Russlands informieren wird. Wie sie konkret ausfallen, dürfte vor allem davon abhängen, ob und in welcher Form die Allianz den prowestlichen Ex-Sowjetrepubliken Georgien, Moldau und Ukraine konkrete Termine für den Beginn von Beitrittsverhandlungen anbietet. Vor allem für Kiew, so NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, stünden die Türen »weit offen«.

Allerdings verbieten die Statuten der Allianz die Aufnahme von Mitgliedern, die ungeklärte Grenz- und Gebietsstreitigkeiten mit ihren Nachbarn haben, und das ist bei allen drei Bewerbern der Fall. Russische Sicherheitsexperten fürchten indes, die Allianz könnte die Klippe mit Gründung eines Bündnisses umschiffen, das mit der NATO alliiert ist, ohne Mitglied zu sein.

Der Druck auf Moskau würde dann massiv zunehmen. Zumal die Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS) – das Verteidigungsbündnis der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS, dem Belarus, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan angehören – bisher nicht das Zeug zu einem realen Gegengewicht zur NATO hat. Wiederholt versagte die OVKS sogar als Krisenmanager bei Unruhen und ethnischen Konflikten ihrer zentralasiatischen Mitglieder. Und die Entwicklungen in der Ukraine engen Moskaus Spielraum, die OVKS zu einem antiwestlichen Bündnis umzuschmieden, weiter ein.

Vor allem Kasachstan, wo ethnische Russen im Norden über ähnlich große Mehrheiten wie auf der Krim verfügen, verfolgt mit Misstrauen, wie Moskau sich für den Schutz der Landsleute im Ausland ins Zeug legt. Noch, so ein Kolumnist, würden die Kasachen dem verbündeten Russland nicht die kalte Schulter zeigen. Aber das Lächeln aus ihren Gesichtern sei bei Protokollfotos bereits verschwunden.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014


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