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Enge Zusammenarbeit statt Mitgliedschaft - Die Erwartungen der Ukraine an die NATO

Ein Beitrag von Bernd Musch-Borowska in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Jahrelang hat sich die Ukraine bemüht, Mitglied der NATO zu werden. Angesichts des aktuellen Konfliktes mit Russland ist eine Aufnahme in das Militärbündnis aber auf absehbare Zeit praktisch ausgeschlossen. Eine Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet zwischen NATO und Ukraine gibt es allerdings bereits seit längerem. Sie soll nun sogar verstärkt werden. Denn die ukrainische Regierung befürchtet das Schlimmste, wie Bernd Musch-Borowska in Kiew beobachtet hat:


Manuskript Musch-Borowska

Die Ukraine bereitet sich auf einen möglichen Angriff der russischen Streitkräfte vor. Der amtierende Präsident Alexander Turchynov besuchte in dieser Woche ein Manöver nahe der russischen Grenze:

O-Ton Turchynov (Overvoice)
„Wir sind vorbereitet für einen Krieg. Unsere Soldaten haben mit dem Training begonnen. Die Besetzung der Krim durch Russland hat unsere Streitkräfte mit großen Problemen konfrontiert. Es kommt jetzt darauf an, unsere militärische Stärke wieder aufzubauen.“

Noch in diesem Jahr sollen gemeinsame Manöver mit Soldaten der NATO in der Ukraine abgehalten werden. Der amtierende Verteidigungsminister Myhalo Koval sagte, daran würden ebenso viele ukrainische Soldaten wie Soldaten aus NATO-Ländern teilnehmen - insgesamt 5.000:

O-Ton Koval (Overvoice)
„Durch die Teilnahme unserer Streitkräfte an diesem multinationalen Manöver haben wir die Möglichkeit, unsere operativen Kapazitäten zu entwickeln und unsere Gefechtsbereitschaft zu erhöhen. Sie trägt auch zur Festigung des gegenseitigen Vertrauens und der Verständigung zwischen den Beitrittsstaaten bei.“

Diese gemeinsamen Manöver mit dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis hätten vor allem drei Ziele, meint der Militärforscher Mykola Sungurovskyi vom Razumkov-Zentrum in Kiew, einem Think-Tank für Sicherheitspolitik:

O-Ton Sungurovskyi (Overvoice)
„Das erste Ziel ist symbolisch. Es ist ein Zeichen, dass die NATO ein verlässlicher Partner der Ukraine ist und das kann dazu beitragen, die Situation zu stabilisieren. Zweitens wird dadurch die Professionalität unserer Streitkräfte erhöht und an die NATO-Standards angepasst. Und drittens, eher inoffiziell, geht es um technische Unterstützung. Denn die NATO-Ausrüstung könnte anschließend hier in der Ukraine bleiben.“

Angesichts der Bedrohung durch Russland, das nach Einschätzung der NATO rund 40.000 Soldaten an der ukrainischen Ostgrenze stationiert hat, und dem desolaten Zustand der ukrainischen Streitkräfte, wird in Kiew verstärkt über mögliche Formen einer engeren Zusammenarbeit mit der NATO diskutiert. Ein NATO-Beitritt stehe derzeit jedoch nicht auf der Agenda, sagte der amtierende ukrainische Außenminister Andrii Deshchytsia:

O-Ton Deshchytsia (Overvoice)
„Im Moment hat die Ukraine keine rechtliche Grundlage, um einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft zu stellen. Ein Beitritt zur NATO gehört derzeit nicht zu den Prioritäten der ukrainischen Regierung.“

Tatsächlich wurde durch die umstrittene Aufnahme der Krim in die Russische Föderation der Ukraine die Grundlage für einen NATO-Beitritt entzogen. Die NATO-Statuten sehen nämlich vor, dass kein Land Mitglied des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses werden kann, das ungelöste Territorial-Konflikte mit einem Drittland hat. So war die de-facto-Annexion der Krim möglicherweise ein genialer Schachzug des russischen Präsidenten Putin. Die russische Führung hatte in der Vergangenheit immer wieder heftig gegen alle Bestrebungen der Ukraine für eine Aufnahme in die NATO protestiert.

2008 hatte der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschchenko, zusammen mit der damaligen Premierministerin Julia Timoschenko und dem heutigen Übergangspremier Arseniy Jatseniuk, beim NATO-Gipfel in Bukarest einen Antrag zur Aufnahme in den Membership Action Plan MAP der NATO gestellt. Der MAP gilt als Vorstufe zur NATO-Mitgliedschaft und dient der Vorbereitung eines regulären Aufnahmeantrags. Er wurde seinerzeit jedoch abgelehnt.

Das war möglicherweise ein Fehler, meint der Militärforscher Oleksiy Kolomiyers vom Zentrum für Europa- und Transatlantische Studien in Kiew. Angesichts der Bedrohung Europas durch Russland sollte die NATO ihre Position überdenken:

O-Ton Kolomiyers (Overvoice)
„Wenn die NATO bei ihrem nächsten Treffen im September in Wales der Ukraine kein Angebot für einen möglichen Beitritt macht, ist das ein deutliches Zeichen an Russland. Dann müssen wir mit einem Angriff rechnen.“

Kolomiyers geht bei seinen Befürchtungen sogar noch weiter. Russland werde sich nicht mit der Krim zufrieden geben und auch im Osten der Ukraine nicht Halt machen:

O-Ton Kolomiyers (Overvoice)
„Die Situation ist viel schlimmer. Der Plan von Putin ist, nach der Krim Bulgarien, dann Serbien und dann Bosnien-Herzegowina einzunehmen. Das ist die Südrichtung. Im Norden will er die Besetzung Lettlands, die Destabilisierung Finnlands und danach Grönland und Spitzbergen. Wir sind davon überzeugt, dass ein solcher Plan existiert. Und ich habe keinen Zweifel, dass dieser Plan auch umgesetzt wird.“

Ohne die Hilfe der NATO könne die Ukraine einem möglichen Angriff aus Russland keinesfalls standhalten, sagt Mykola Sungurovskyi vom Razumkov-Zentrum in Kiew. Die Schwäche der ukrainischen Streitkräfte sei zu offensichtlich. Seit Jahren würde eine notwendige Umstrukturierung der Streitkräfte zur Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit zur Landesverteidigung vernachlässigt.

O-Ton Sungurovskyi (Overvoice)
„Man kann schwer über Stärken unserer Streitkräfte sprechen. Aber die Schwächen sind klar. Erstens die Struktur der Streitkräfte, ihre Zahl und ihre Aufgaben wurden seit 2004 auf einen möglichen NATO-Beitritt hin ausgerichtet. Die Landesverteidigung stand an zweiter Stelle. Auch nach 2010, als das Parlament unseren blockfreien Status verabschiedet hat, ging das in diese Richtung weiter. Der Generalstab hat mehrfach vorgeschlagen, die Streitkräfte auf 156.000 Soldaten zu erhöhen, um sie voll funktionsfähig zu machen. Aber vergeblich.“

Die Ukraine hat eine Wehrpflicht-Armee, die nach Angaben des Internationalen Instituts für Strategische Studien IISS in London rund 130.000 Soldaten umfasst. Durch die de-facto-Annexion der Krim durch Russland sind jedoch viele Soldaten zu den russischen Streitkräften übergetreten. Angesichts der Bedrohung durch Russland wurden nach Angaben der ukrainischen Nachrichtenagentur interfax inzwischen 19.000 Reservisten mobilisiert. Der Mobilisierungsplan sei zu 85 Prozent abgeschlossen, sagte der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Andriy Parubiy.

Doch diese Maßnahmen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ukraine ohne Unterstützung von außen allein einer Intervention der überlegenen russischen Streitkräfte nicht viel entgegenzusetzen hätte. Militärisch würde die NATO der Ukraine bei einem russischen Angriff aber wohl nicht helfen. Denn der Bündnisfall gilt für die NATO nur dann, wenn ein Mitglied der Allianz angegriffen wird.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 5. April 2014; www.ndr.de/info


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