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Aus der Geschichte gelernt?

Von Heinrich Hannover*

Aus Anlass des 80. Geburtstags von Heinrich Hannover, dokumentieren wir hier einen Artikel, den er im Frühjahr 2003, unmittelbar vor dem Irakkrieg, in der Zeitschrift "Ossietzky" veröffentlichte. Der streitbare Rechtsanwalt und Notar, der am 31. Oktober 1925 in Anklam geboren wurde und heute in Worpswede bei Bremen lebt, setzt sich in diesem Beitrag mit der Behauptung kriegswilliger Politiker auseinander, der Pazifismus sei untauglich zur Verhinderung von Kriegen, ja er trage sogar eine Mitschuld an der Entstehung des 2. Weltkriegs.
(Zu einer ausführlichen Würdigung Heinrich Hannovers geht es hier: Verteidiger des Rechtsstaats und Chronist der juristischen Zeitgeschichte. Eine Laudatio von Helmut Kramer.)



Die Pazifisten hätten nichts aus der Geschichte gelernt, verkünden Gefolgsleute des amerikanischen Präsidenten, seit der drohende Irak-Krieg denkende Menschen wieder auf die Straße treibt. Die Kriegswilligen glauben, die Lehren der Geschichte auf ihrer Seite zu haben, wenn sie Saddam Hussein mit Hitler vergleichen und darauf verweisen, dass die Befreiung Deutschlands und der Welt vom Hitler-Faschismus nur mit militärischer Gewalt möglich gewesen sei. Daraus sei zu lernen, dass Saddam Hussein, dieser zweite Hitler, durch einen Krieg gegen Irak entmachtet werden müsse. Eine These, die sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihren Konsequenzen hinterfragt werden muss.

Es hat auch in der Geschichte des Hitler-Faschismus eine Zeit gegeben, zu der Hitler mit nichtkriegerischen Mitteln in seine Schranken hätte verwiesen werden können. Es darf wohl vorausgesetzt werden, dass das Führungspersonal der zivilisierten Staaten Hitlers „Mein Kampf“ kannte und demnach wusste, was auf Deutschland und die Welt zukam. Gleichwohl hat man diesen Staatsterroristen, der das Recht des Stärkeren als Richtlinie seiner Politik verkündete, von Anfang an hofiert (Victor Klemperer notierte es schon 1933 voll Verzweiflung), statt ihn zur Einhaltung internationaler Verträge zu zwingen. Hätten im März 1936, als Hitler unter Bruch des Versailler Friedensvertrages seine Wehrmacht im entmilitarisierten Rheinland einmarschieren ließ, internationale Inspektoren ihre Arbeit aufgenommen und eine wachsame Diplomatie der zivilisierten Staaten die weitere Aufrüstung seines Terrorstaats verhindert, wäre der Welt ein furchtbarer Krieg mit 50 Millionen Toten und der Zerstörung unzähliger Städte und Kulturgüter erspart geblieben.

Die westlichen Staatsmänner und Diplomaten, die einen Hitler groß werden ließen, waren keine Pazifisten. Sie waren Antikommunisten und sahen in Hitler einen Bundesgenossen gegen die rote Gefahr. Wie Hitler sich gleich nach der „Machtergreifung“ der Kommunisten, der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften entledigte, war ihnen zutiefst sympathisch. Und ebenso seine erklärte Absicht, Krieg gegen die Sowjet-Union führen zu wollen (sehr lesenswert: Jacques Pauwels „Der Mythos vom guten Krieg“). Es ist daher eine Spekulation auf historische Unwissenheit, wenn ausgerechnet aus der antikommunistischen Ecke der Vorwurf kommt, es sei die Schuld der Pazifisten, dass es zum 2. Weltkrieg kommen konnte.

Ja, man kann noch weiter zurückgehen und beklagen, dass schon in der Weimarer Republik pazifistische Stimmen mit justiziellen Mitteln zum Schweigen gebracht worden sind. Ich nenne nur die Fälle Fritz Küster, Berthold Jacob und Carl von Ossietzky. Ihnen wurde als Landesverrat angelastet, dass sie vor der unter Bruch des Versailler Friedensvertrages betriebenen Aufrüstung gewarnt haben. Als Carl von Ossietzky nach Hitlers berüchtigtem „Legalitätseid“ vor dem Reichsgericht in der „Weltbühne“ vom 1.10.1930 schrieb, dass man diesen Mann, statt seinen hochverräterischen Plan mit Achtung entgegenzunehmen, in eine Heilanstalt stecken oder als Verbrecher in Eisen legen sollte, wäre noch Zeit gewesen, auf Pazifisten zu hören. Es ist daher unredlich, ausgerechnet Pazifisten, die gegen den geplanten Irak-Krieg protestieren, vorzuhalten, dass schließlich ein Krieg nötig gewesen sei, um Hitler zu schlagen.

Auch heute wollen die Kriegswilligen nicht hören, was die „naiven Friedenfreunde“ ihnen zurufen. Man sagt uns, Saddam Hussein sei ein zweiter Hitler, um den Schluss nahe zu legen, dass man mit ihm umgehen müsse, wie mit Hitler. Und will uns mit historischen Vergleichen glauben machen, dass ein Krieg nötig und ein geeignetes Mittel zur Abwehr der von dem irakischen Diktator ausgehenden Gefahren sei. Aber ihre historischen Vergleiche sind unschlüssig.

Das gilt auch für die Bewertung des gern als Beweis für die Fehlerhaftigkeit pazifistischer Positionen zitierte Münchner Abkommens vom 29. September 1938, in dem die Regierungschefs von Großbritannien (Chamberlain), Frankreich (Daladier) und Italien (Mussolini) Hitlers Forderung auf Abtretung des Sudetenlandes sanktionierten, um den Frieden durch Zugeständnisse an Hitler zu retten. Es ist richtig, dass die damalige Appeasement-Politik gegenüber dem kriegsentschlossenen Diktator nur dazu geführt hat, dass Hitler weitere territoriale Forderungen stellte und der Beginn des Krieges um ein Jahr verschoben wurde. Für eine dauerhaft friedliche Lösung war es auch 1938 schon zu spät. Dass die am Münchener Abkommen beteiligten Staatsmänner und Diplomaten noch im Jahre 1938 nicht begriffen hatten, was sie schon vor 1933 über Hitler hätten wissen können, kann man nicht den Pazifisten anlasten. Sie hatten früh genug gewarnt.

Im übrigen waren das Münchner Abkommen von 1938 und die Duldung der im März 1939 erfolgenden deutschen Besetzung der Tschechoslowakei das Ergebnis einer Politik, die keineswegs so friedlich motiviert war, wie man uns glauben machen will. Vielmehr zielte sie darauf ab, Hitlers Deutschland als Bollwerk gegen die kommunistische Gefahr aufzurüsten und ihn zum erwarteten und erhofften Kreuzzug gegen die Sowjet-Union zu bewegen. Nachzulesen bei Jacques Pauwels „Der Mythos vom guten Krieg“ (S. 45 ff.), der sich auf die Untersuchung der kanadischen Historiker Clement Leibovitz und Alvin Finkel „In our Time: The Chamberlain-Hitler Collusion“ (New York 1998) stützt.

Wer gegenüber Pazifisten mit historischen Beispielen Recht behalten will, steigt an einer Stelle in die Geschichtsbetrachtung ein, wo es für friedliche Lösungen zu spät war. Ein Diskussionsmuster, das mir aus einigen tausend Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern hinreichend bekannt ist. Man lässt die Geschichte mit der Situation beginnen, die von den Kriegswilligen gegen den jahrelangen Widerspruch von Pazifisten herbeigeführt worden ist und fragt dann: was hättet ihr jetzt getan? Aber man weigert sich, die Frage zu beantworten, was zu der Zeit gedacht, gesagt und getan worden ist, als es noch nicht zu spät gewesen wäre, Hitlers Amoklauf ohne Krieg zu stoppen. So hätte 1936, als Hitler daran interessiert war, die Völker der Welt zu den Olympischen Spielen in Berlin zu begrüßen, noch diplomatischer Druck genügt, um ihn zur Anerkennung internationalen Rechts zu zwingen. Später hätte es allerdings der Androhung internationaler Militärgewalt bedurft, um Hitler von weiteren Rechtsbrüchen abzuschrecken.

Vielleicht wird man sagen, Hitler hätte sich auch durch eine schon zu einem früheren Zeitpunkt angekündigte Kriegsentschlossenheit der Alliierten nicht von weiteren Provokationen abhalten lassen. Wenn das richtig ist, und ich halte es für möglich, dann versagt der historische Vergleich zwischen Hitler und Saddam Hussein auch in diesem Punkt.

Denn während Saddam Hussein sich der international kontrollierten Entwaffnung seines Landes unterworfen hat, wurde Hitler gestattet, aus dem nach dem 1. Weltkrieg entwaffneten Deutschland die stärkste Militärmacht des europäischen Kontinents zu machen. Ein Deutschland, das seine Waffen verschrottet hätte, wäre wohl kaum Ziel eines Angriffskrieges geworden. Für einen Angriffskrieg, wie er jetzt gegen ein zu freiwilliger Entwaffnung bereites Land geführt werden soll, gibt es kein historisches Vorbild.

Wir hören, Auschwitz sei nicht von Pazifisten, sondern von Soldaten befreit worden. Es muss anscheinend auch daran erinnert werden, dass die Nazis ihr Massenmordprogramm gegen Juden und andere missliebige Minderheiten wie Zigeuner und Zeugen Jehovas trotz und gerade während des Krieges durchführen konnten. Nur relativ wenige Juden, die den Holocaust im Versteck überlebt haben, sind tatsächlich durch den militärischen Einmarsch der Alliierten befreit worden. Aber das ändert nichts daran, dass der Großteil der Verfolgten nicht durch den Krieg gerettet worden ist. Auch Auschwitz wurde erst befreit, als es für Millionen Menschen zu spät war. Nur eine konsequentere internationale Anti-Hitler-Koalition schon zu Friedenszeiten und eine menschlichere Haltung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden hätte sie vor Entrechtung, Freiheitsberaubung und Vernichtung schützen können. Das, und nicht voreilige Kriegsbereitschaft, ist aus der Geschichte zu lernen.

Man hörte das Argument, es gehe um die Beseitigung aller denkbaren Quellen terroristischer Gewalt, einer Gefahr, die der amerikanischen Bevölkerung durch den Anschlag vom 11. September 2001 bewusst geworden ist. Fürwahr, die Amerikaner haben Krieg zum ersten Mal im eigenen Land erlebt. Und da der Gegner ungreifbar war, suchte ihre Regierung nach Ersatzzielen, die man bombardieren kann. Aber hat die Bombardierung Afghanistans die Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung erhöht? Kann ein Krieg gegen den Irak, dem bisher keinerlei Verbindung zu den Attentätern des 11. September nachgewiesen ist, dieses Ziel erreichen? Oder sind nicht vielmehr weitere Selbstmordattentate, wie bereits angekündigt, zu erwarten?

Eine Supermacht, die bisher gewohnt war, ihre Kriege in fernen Ländern führen zu können, ohne die eigene Bevölkerung zu gefährden, wird sich darauf einstellen müssen, dass die Betroffenen neue Kampfformen gefunden haben, nämlich Selbstmordattentate im Hinterland des militärisch überlegenen Angreifers, und in Zukunft vielleicht auch Geiselnahmen und andere Formen individuellen Terrors. Der israelisch-palästinensische Konflikt mit seinem furchtbaren Automatismus von Schlag und Gegenschlag liefert im kleinen Maßstab Anschauungsunterricht über die verheerenden Konsequenzen dieses Kampfes zwischen David und Goliath. Eine Lösung ist auch dort nur zu erhoffen, wenn man das Recht des Stärkeren aufgibt und pazifistische Denkkategorien Ernst nimmt.

Irgendwann wird man anfangen müssen, die bisher als ruchlose Terrorakte definierten Attentate als Kriegshandlungen militärisch hoffnungslos unterlegener Völker zu begreifen. Das macht sie nicht weniger verwerflich („Soldaten sind Mörder“!), aber es kann uns zu der Erkenntnis führen, dass es einen Zusammenhang dieser mörderischen Taten mit den Aktionen der Militärmächte gibt, gegen die sie sich richten. Die Liste amerikanischer Militäraktionen der vergangenen Jahrzehnte, die solche Reaktionen befürchten ließen, ist lang, aber weder in den USA noch in der BRD im öffentlichen Bewusstsein. Auch der Irak-Krieg, wenn er denn nicht zu verhindern sein sollte, wird den Amerikanern und deren Mitläufern neue Feinde machen und neue Gefahren einbringen.

Man will uns weiter glauben machen, dass es darum gehe, die Gefahr irakischer Angriffe mit Raketen und Massenvernichtungsmitteln auf Israel abzuwehren. Ja, den Millionen, die am 15. Februar in aller Welt auf die Straße gegangen sind, um gegen die Kriegspläne des Herrn Bush zu protestieren, ist unterstellt worden, sie würden die Gefahr verkennen, dass Saddam Hussein, dieser von den USA einst hofierte Diktator, frühere Drohungen wahrmacht und, wie schon im Golfkrieg von 1990/91, die ihm, auch aus der westlichen Welt gelieferten, Raketen und Gifte auf Israel abschießt. Gibt es ein besseres Mittel zur Verhinderung eines solchen Verbrechens als die von internationalen Inspektoren kontrollierte Abrüstung des Irak? Wird nicht die Gefahr eines irakischen Angriffs auf Israel erhöht, wenn ein Militärschlag gegen den Irak geführt wird, bevor die Inspektoren ihre Arbeit in der dafür erforderlichen Zeit abgeschlossen haben? Gerade aus Sorge um die Existenz und Unversehrtheit Israels, des Staates, der für Juden eine sichere Zuflucht bieten sollte, muss doch nachdrücklich davor gewarnt werden, vor Abschluss der Kontrollen einen Krieg gegen einen Staat zu eröffnen, dem noch der Besitz von bisher nicht entdeckten Massenvernichtungsmitteln und deren Anwendung gegen Israel zugetraut wird. Der Gedanke ist so naheliegend, dass nicht ernstlich angenommen werden kann, die US-Administration glaube noch an das Vorhandensein von Massenvernichtungsmitteln im Irak. Aber wer wird schon den Sieger fragen, ob seine Kriegsgründe berechtigt waren. Also schnell zuschlagen, bevor das letzte denkbare Versteck inspiziert ist.

Die von den USA geleiteten Militäraktionen der letzten Jahre haben verwüstete Länder hinterlassen, in denen die Überlebenden bittere Not leiden. Jetzt ist Irak an der Reihe, wo schon heute Hunderttausende, besonders Kinder sterben, weil es infolge des von angeblich zivilisierten Staaten verhängten Embargo an Lebensmitteln und Medikamenten fehlt. Blind gegenüber den voraussehbaren Folgen und voll höhnischer Verachtung gegenüber dem Völkerrecht und elementaren Menschenrechten wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein neuer Massenmord vorbereitet. Das aus der Geschichte wohlbekannte Recht des Stärkeren wird als Prinzip einer neuen Weltordnung praktiziert, deren Protagonist historischen Vergleichen nicht entgehen wird.

* Aus: "Ossietzky" Nr. 6/2003


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