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Präzedenzfall für Kriegsdienstverweigerer

Der Europäische Gerichtshof beschäftigt sich mit dem Asylantrag eines Ex-US-Soldaten


2004 war André Shepherd als Soldat der US-Armee sechs Monate in Irak stationiert und reparierte als Mechaniker die dort eingesetzten Apache-Kampfhubschrauber. Als er wieder zurück zu seiner in Deutschland stationierten Einheit kam, verließ er im April 2007 die Truppe und beantragte 2008 in der Bundesrepublik Asyl. Der Grund: Das Vorgehen des US-Militärs gegen die irakische Zivilbevölkerung, wie es etwa im »Collateral Murder«-Video (veröffentlicht am 5. April 2010) zu sehen ist, wobei aus Hubschraubern Zivilisten getötet werden. Shepherd berief sich auf eine sogenannte Qualifizierungsrichtlinie der Europäischen Union von 2004, wonach diejenigen zu schützen sind, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder derartigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung zu rechnen haben. Der Asylantrag wurde abgelehnt. Der Frankfurter Rechtsanwalt Reinhard Marx vertritt André Shepherd. Mit ihm sprach Rudolf Stumberger.

nd: Ist der Asylantrag Shepherds ein Präzedenzfall?

Shepherd: Das ist ein wirklicher Präzedenzfall, es hat noch keinen US-Amerikaner, der desertiert ist, gegeben, der einen Asylantrag gestellt hat, auch während des Vietnam-Krieges nicht. Das ist auch der einzige Fall in Europa.

Warum hat das Bundesamt für Flüchtlinge den Asylantrag von André Shepherd am 31. März 2011 abgelehnt?

Das ist eine gute Frage. Die schriftliche Begründung des Behördenbescheids muss nicht unbedingt das wiedergeben, warum sie ihn wirklich abgelehnt haben. Ich denke aber, das liegt auf der Hand: Es geht um einen US-Staatsbürger, der einen Flüchtlingsstatus haben will, das ist der Hintergrund. Aber das schreiben sie so nicht rein. Schriftlich begründet wurde, dass die Verwicklung der Hubschrauber in Menschenrechtsverletzungen Einzelfälle und nicht systematisch gewesen seien.

Aber darauf kommt es gar nicht an. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass allein die Möglichkeit für die Verwicklung in Menschenrechtsverletzungen für Asylgewährung ausreicht. Auch die Ansicht, dass Herr Shepherd erst verurteilt werden müsste, um Asyl zu bekommen, teilen wir nicht. Im Flüchtlingsrecht geht es ja um vorbeugenden Schutz.

Die Verhandlung zu Ihrer Klage gegen diese Ablehnung wurde nun vom Verwaltungsgericht München abgesetzt. Warum ist München zuständig und was war der Grund für die Absetzung?

Das Verwaltungsgericht München ist zuständig, weil der Mandant im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichtes lebt. Die Klage ist seit April 2011 anhängig, jetzt sollte am Mittwoch dieser Woche die mündliche Verhandlung sein. Da hätte ich den Antrag gestellt, die Klage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Das macht das Verwaltungsgericht nun ohne Verhandlung allein aufgrund der schriftlichen Vorbringung durch uns, es stellt ein sogenanntes Vorabentscheidungsersuchen.

Was ist das, ein Vorabentscheidungsersuchen?

Das ist so: In München kann über den Antrag des Herrn Shepherd nur nach Maßgabe des europäischen Rechts entschieden werden, weil für Flüchtlingsfragen eine europäische Richtlinie zuständig ist. Nun gibt es Streit über die nationale Auslegung bestimmter Teile dieser Richtlinie. Und diese Fragen kann ein nationales Gericht nicht selbst entscheiden, weil es um Recht geht, das ja in 27 Mitgliedstaaten gilt. Und deshalb muss das nationale Gericht den Fall in Luxemburg vorlegen.

Warum ist der Europäische Gerichtshof in Luxemburg zuständig?

Der ist zunächst nicht zu verwechseln mit dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. In Luxemburg sitzt der Gerichtshof der Europäischen Union. Es entscheidet nicht selbst. Sondern legt das Unionsrecht nur aus und gibt den Fall dann wieder zurück an das nationale Gericht.

Wie lange dauert das Auslegungsverfahren in Luxemburg?

Das Verfahren dauert zwei Jahre. Dann geht der Fall zurück nach München, das dauert dort wiederum ein Jahr.

Wird das Luxemburger Verfahren Auswirkungen auf Asylverfahren in Deutschland haben?

Ja, vor allem für Kriegsdienstverweigerer. Aber es kann sich auch noch auf weitere Bereiche auswirken.

Was bedeutet es in Hinsicht auf die Beurteilung des Irak-Kriegs?

Das ist ja zunächst keine politische Entscheidung, sondern es geht um humanitäre Fragen, es geht um Schutzgewährung. Wenn aber das Gericht zu der Auffassung kommt, dass Herr Shepherd im Irak in Menschrechtsverletzungen verwickelt hätte sein können, dann ist das natürlich schon eine bestimmte Aussage.

Wie lebt André Shepherd derzeit in Deutschland?

Herr Shepherd ist mittlerweile mit einer Deutschen verheiratet, das war sehr unproblematisch. Wir haben uns alle gewundert, dass das so schnell ging: Aufenthalts- und sogar Arbeitserlaubnis. Normalerweise dauert das länger. Ich denke, die Behörden wollten, dass er seine Sache nicht weiterverfolgt.

Von wem wird er unterstützt?

Er wird von mehreren Organisationen unterstützt, unter anderen durch Connection e.V., Pro Asyl und den Bayerischen Flüchtlingsrat.

Gibt es ein Auslieferungsverfahren der Amerikaner?

Nein, Wehrdelikte sind ausgenommen vom Auslieferungsverfahren. Genauso wie bei politischen Delikten. Ginge er freilich in die USA, würde er dort in Haft genommen und unehrenhaft aus der Armee entlassen, er wäre ein Paria.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Januar 2013


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