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US-Deserteure dürfen auf Asyl in EU hoffen

Gutachten schließt Anerkennung politischer Verfolgung von US-Militärangehörigen nicht aus

Von Stefan Otto *

Ein in Bayern stationierter US-Soldat verweigerte den Irak-Einsatz und setzte sich ab. Sein Asylantrag in Deutschland scheiterte. Jetzt äußerte sich der Europäische Gerichtshof dazu.

Der US-Deserteur André Shepherd darf weiter auf Asyl in Deutschland hoffen. Einem Rechtsgutachten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg zufolge könnten Armeeangehörige Asyl beantragen, falls ihnen durch den Militärdienst Verwicklungen in Kriegsverbrechen drohten. EU-Generalanwältin Eleanor Sharpston wies am Dienstag als Gutachterin aber auf eine Reihe noch offener Fragen hin.

Der in Bayern stationierte US-Soldat setzte sich 2007 von seiner Einheit ab, nachdem er den Befehl zu einem weiteren Einsatz im Irak-Krieg bekam. 19 Monate versteckte sich der Mann mit schwarzer Hautfarbe vor der US-Militärpolizei in Bayern, bevor er als erster Deserteur der US-Army in Deutschland Asyl beantragte. Doch sein Asylantrag wurde im März 2011 abgelehnt. Er habe kein einziges Kriegsverbrechen seiner Einheit in Irak nachweisen können, hieß es in der Begründung. Das Verwaltungsgericht München rief daraufhin den EuGH an.

Der heute 37-jährige Shepherd nahm 2004 an der zweiten Schlacht von Falludscha teil, als die US-Army die Stadt im Häuserkampf einnahm und rund 1500 Iraker ermordete. Shepherd wurde während des fünfmonatigen Einsatzes als Wartungsmechaniker für Apache-Hubschrauber eingesetzt.

Gutachterin Sharpston argumentierte nun, dass es grundsätzlich für Militärangehörige möglich sei, einen Antrag auf Asyl zu stellen, auch dann, wenn sie wie Shepherd nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen. Sie wies darauf hin, dass die zuständigen Asylbehörden zu prüfen hätten, ob ein Asylsuchender Gefahr laufe, Kriegsverbrechen zu verüben; die Nachweispflicht liege nicht bei dem Deserteur. Ob die Vereinten Nationen den Einsatz genehmigt hätten, spiele dabei keine Rolle.

Shepherd sieht sich als Vorreiter für andere US-Deserteure. »Es gibt viele tausend Menschen, die in ähnlichen Situationen sind.« Deshalb müsse ein Weg gefunden werden, damit Soldaten dem Wahnsinn von Kriegen entkommen könnten, die auf Verbrechen beruhten. Falls Shepherd in die USA zurückkehren muss, drohen ihm nach eigener Aussage wegen Fahnenflucht 18 Jahre Haft und die unehrenhafte Entlassung aus der Armee.

Ob dies als Diskriminierung zu bewerten ist oder eine angemessene Strafe darstellt, wie die Bundesrepublik argumentiert, müsse noch geprüft werden, betonte die Gutachterin Sharpston. Die deutschen Behörden müssten außerdem noch klären, ob es in den USA ein Verfahren für Kriegsdienstverweigerer gebe. Wenn Shepherd nämlich dadurch dem Irak-Einsatz hätte entgehen könne, dann gebe es keinen Grund, ihn als verfolgten Flüchtling anzuerkennen, so die EU-Generalanwältin.

Mit einem Urteil des EuGH zu diesen Fragen ist erst in einigen Monaten zu rechnen. In den meisten Fällen folgen die Richter dem Rat der Gutachter.

* Aus: neues

deutschland, Mittwoch, 12. November 2014



US-Krieg als Asylgrund

Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofes zum Fall des desertierten GI André Shepherd: Begründeter Anspruch auf Schutz

Von Arnold Schölzel **


Der früher in Deutschland stationierte und wegen des Irak-Kriegs desertierte US-Soldat André Lawrence Shepherd kann möglicherweise politisches Asyl beanspruchen. Nach einem am Dienstag beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorgelegten richterlichen Rechtsgutachten müssen die deutschen Gerichte hierzu noch mehrere Fragen klären. Das abschließende Urteil des EuGH wird voraussichtlich Anfang kommenden Jahres verkündet. (Aktenzeichen: C-472/13)

Der heute 37jährige Shepherd war bei der US-Armee Berufssoldat und Wartungsmechaniker für Apache-Kampfhubschrauber. Mit seiner in Deutschland stationierten Einheit war er ab September 2004 fünf Monate lang im Irak eingesetzt. Als er 2007 einen erneuten Einsatzbefehl in den Irak bekam, tauchte er zunächst bei deutschen Freunden unter und beantragte 2008 Asyl. Er argumentierte mit dem völkerrechtswidrigen Charakter des Irak-Kriegs und damit, er wolle sich nicht weiter an »Kriegen gegen die Menschlichkeit« beteiligen. Shepherd beruft sich auf die sogenannte EU-Qualifikationsrichtlinie. Sie legt fest, welche Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt sein müssen. Demnach sind Deserteure zu schützen, wenn sie sich einem völkerrechtswidrigen Krieg entziehen und sie deswegen mit Verfolgung rechnen müssen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Antrag im April 2011 dennoch ab. Beobachter sahen darin eine politische Entscheidung. Shepherd legte Einspruch ein, das Verwaltungsgericht München rief im September 2013 den EuGH an. Dort legte nun die Generalanwältin beim EuGH, Eleanor Sharpston, ihren sogenannten Schlussantrag zu dem Streit vor. Der Gerichtshof ist daran nicht gebunden, folgt dem aber fast immer. Nach Überzeugung Sharpstons gilt die Qualifikationsrichtlinie sogar unabhängig von einem UN-Mandat, das es für den Irak-Krieg nicht gegeben hatte. Zudem seien von ihr sämtliche Militärangehörige erfasst, also nicht nur kämpfende Soldaten, sondern auch Mechaniker wie Shepherd.

Folgt der EuGH auch in diesem Fall dem Gutachten der Generalanwältin, müssen deutsche Gerichte prüfen, ob die USA im Irak Kriegsverbrechen begangen haben oder ob Shepherd zumindest schlüssig befürchten durfte, in solche Verbrechen verwickelt zu werden. Voraussetzung für Asyl in der EU ist laut Sharpston zudem, dass Shepherd als Berufssoldat seinen Dienst nicht regulär kündigen und auch keinen aussichtsreichen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung nach US-Recht stellen konnte. Shepherd macht geltend, dass er nicht jeden Kriegsdienst ablehne, sondern nur die Kriegsverbrechen. Sollte Shepherd in die USA zurückkehren, drohen ihm nach eigenen Angaben eine Freiheitsstrafe, die unehrenhafte Entlassung aus der Armee sowie damit verbunden große soziale Ächtung. Die deutschen Gerichte müssten daher auch prüfen, inwieweit dies als Verfolgung anzusehen ist.

Das internationale Kriegsdienstverweigerungsnetzwerk Connection e. V. und Pro Asyl, die Shepherds Verfahren seit Jahren unterstützen, erklärten ebenso wie sein Rechtsanwalt am Dienstag, sie sähen sich »in ihrer Überzeugung bestätigt, dass ein Schutz für Deserteure auf der Basis der EU-Qualifikationsrichtlinie möglich ist.« Shepherd selbst meinte: »Der Schlussantrag stimmt mich sehr optimistisch, sowohl für mein Verfahren als auch für die Rechte von anderen Deserteuren.«

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. November 2014


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