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"Piraterie ist erfolgreiches Geschäftsmodell"

Die Freibeuter vor Somalias Küste passen perfekt in die neoliberale Wirtschaftswelt. Ein Gespräch mit Ralph Klein *


Ralph Klein ist Historiker und hat soeben ein Buch über »Moderne Piraterie. Die Piraten vor Somalia und ihre frühen ­afrikanischen Brüder« verfaßt.


Woher kommt der piratenfreundliche Unterton in Ihrem Buch?

Ich dachte, das sei eher ein faszinierter als ein freundlicher Unterton. Ich war früher davon ausgegangen, Piraterie sei eine seit 150 Jahren erledigte historische Erscheinung, und dann höre ich auf einmal, daß Leute, die buchstäblich verhungern, sich einen Teil des Reichtums aneignen, der täglich an ihrer Küste entlangschippert. Diesem Phänomen will ich nachgehen, und dabei versuche ich, das verbreitete Bild der Piraterie vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Dem Grundtenor der hiesigen Medien zufolge sind Piraten eine kriminelle Bedrohung für unseren Wohlstand und unser Wirtschaftsleben. Wie nehmen Sie das wahr?

Eigentlich passen sie doch perfekt in die neoliberale Wirtschaftswelt: Sie jammern nicht über ihr Elend, sondern organisieren sich. Sie entwickeln mit viel Unternehmungslust, Initiative, Durchsetzungsstärke und Flexibilität ein außerordentlich erfolgreiches Geschäftsmodell – da würde doch jeder Kapitalist sagen: Alle Achtung, gute Idee! Aber im Ernst: Den Vorwurf der Kriminalität muß man an die Industriestaaten zurückgeben, aus denen 55 bis 60 schwimmende Fischfabriken – aus Spanien, Frankreich oder Taiwan – illegal vor der somalischen Küste fischen. Das ist natürlich auch eine Form von Piraterie.

Sie werfen die Frage auf, ob die Piraten Sozialbanditen seien. Was meinen Sie damit?

Damit meine ich, im Sinne des britischen Historikers Eric Hobsbawm, eine Art von Banditentum, das nicht ausschließlich persönliche Bereicherung anstrebt, sondern von einem Sozialverband getragen wird. Der Idealtyp ist Robin Hood, der das Ergaunerte gleich verteilt hat.

Einige der somalischen Piraten passen in dieses Konzept durchaus hinein. Sie genießen zwar ihren Reichtum, aber sie geben einen Teil davon an die Gemeinschaften ab, aus denen heraus sie tätig werden. Das entspricht auch tief verwurzelten Traditionen der somalischen Gesellschaft. Was die Gemeinschaften mit diesem Geld machen, ist völlig unterschiedlich: Die einen errichten Moscheen, andere schaffen sich Dieselgeneratoren an, andere bauen Schulen oder kaufen Lebensmittel – was sie eben gerade brauchen. Die Piraten tragen auf ihre Weise zur Verbesserung der Lebensbedingungen bei.

Sind Piraten also ein Vorbild für ein emanzipatorisches Projekt?

Das sehe ich nicht so. Wir müssen vorsichtig sein mit der Übertragung unserer westlichen Konzepte auf die somalische Gesellschaft. Zum einen gibt es Piraterie nur an den Küsten, der Rest des Landes hat damit nichts zu tun. Und was wir von den Piraten lernen könnten, wissen wir schon: Man muß sich organisieren, man muß schlauer sein als der Gegner und dessen Erwartungen unterlaufen, man muß subversiv sein und sozial eingebunden, wenn man etwas ändern will.

Ein Pferdefuß aus linker Sicht ist aber wohl, daß die unmittelbaren Opfer der Piraten die proletarischen Seeleute auf den entführten Schiffen sind.

Das ist das schwierigste Kapitel: Die wirklichen Verlierer der Piraterie sind die Seeleute auf den Dhaus, die als schwimmende Piratenbasis fungieren. Diese Leute, häufig Fischer aus dem Jemen, werden zuweilen von den Piraten gezwungen, für sie zu arbeiten. Manchmal werden diese Männer von den Piratenjägern erschossen. Und wenn Piraten, abgerissene Gestalten mit Flip-Flops an den Füßen und Kalaschnikows in der Hand, ein riesiges Containerschiff entern, stoßen sie neben einem europäischen Offizier auf eine Handvoll zum Beispiel philippinischer oder indischer Seeleute. Da treffen dann bewaffnete, verelendete Menschen aus dem globalen Süden auf ausgebeutete maritime Arbeiter. Auch wenn ich bis heute keine gezielten Erschießungen durch Piraten für bestätigt halte, ist das ist eine unerträgliche Situation. Das würde ich gerne politisch diskutieren, ohne schon fertige Antworten zu haben.

Interview: Frank Brendle

* Aus: junge Welt, Donnerstag 7. Juni 2012


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