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Moskau befürchtet eine Mogelpackung

Von Wolfgang Kötter *

Die Obama-Regierung distanziert sich mit spektakulären Korrekturen von der Politik ihrer Vorgängerin. Der Präsident hat eine atomwaffenfreie Welt zum Ziel seiner Politik deklariert, den UN-Sicherheitsrat auf diese Linie eingeschworen und die Stationierung eines Raketenschirms in Osteuropa gestoppt. Russlands Präsident Dmitri Medwedjew begrüßte diese Entscheidung „mutig“ und „überaus vernünftig“ verkündete seinerseits einen Verzicht auf die Stationierung von Iskander-Raketen im Gebiet Kaliningrad. Aber es bleibt Misstrauen. So befürchtet der russische Militärexperte Leonid Iwaschow, dass das Pentagon den Verzicht auf den Raketenschild in Osteuropa durch Kampfsatelliten oder Laserwaffen kompensieren wird. Nach seinen Angaben arbeiten die USA derzeit an drei weltraumgestützten Angriffssystemen. Zudem könnte das Pentagon mit Laserwaffen ausgestattete Flugzeuge einsetzen.

Laser gegen Raketen

Bei einem Test im August haben der US-Flugzeugbauer Boeing und die US-Luftwaffe vom Transportflugzeug Lockheed C-130 Hercules aus mit einem chemischen Laser erfolgreich ein Bodenziel vernichtet. Das Flugzeug mit dem Laser an Bord war vom Luftwaffenstützpunkt Kirtland in US-Bundesstaat New Mexico gestartet und feuerte auf ein Auto auf dem Raketentestgelände White Sands Missile. Das 3,5 Milliarden US-Dollar teure System ist dafür konzipiert, ballistische Raketen schon in der Startphase zu vernichten. Dabei wirkt die Laserwaffe mit Lichtgeschwindigkeit. Sie soll Teil des globalen Raketenschildes werden, zu dem auch Systeme auf dem Erdboden und im Wasser gehören. Russland habe bereits viel früher als die USA begonnen, Laserwaffen zu entwickeln und zu testen, hält Moskau dagegen. Bereits 1972 sei der erste russische Kampflaser erprobt worden und schon damals in der Lage gewesen, Luftziele zu bekämpfen. Seitdem seien die Potenzen Russlands in diesem Bereich deutlich gestiegen. Also doch eine weitere Runde des Wettrüstens?

Alternative Abwehrsysteme

Der jetzige Stationierungsverzicht bedeutet zudem keineswegs, dass das Projekt Raketenabwehr völlig vom Tisch ist, sondern dass andere Optionen geprüft werden. Obama selbst hat darauf verwiesen: "Unsere neue Raketenabwehr in Europa wird für einen stärkeren, intelligenteren und schnelleren Schutz der amerikanischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten sorgen.“ Kritiker meinen, diese Formulierung komme den Tatsachen vermutlich näher als die Schlagzeile des Wall Street Journals, der Atomraketen-Schutzschild sei auf Eis gelegt worden. Zur Begründung des Verdachts wird auf die Äußerung Obamas verwiesen, dass die Annahme seines Vorgängers George W. Bush, wonach „Irans ballistisches Raketenprogramm eine bedeutende Bedrohung darstellt“, richtig gewesen sei. Er selbst bleibe deshalb der Aufstellung „eines starken Raketenabwehrsystems, das an die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts angepasst ist“, verpflichtet. Das neue Programm sei umfassender und kostengünstiger und führe zu einem nachhaltigen Schutz der USA. Das alternative System soll in mehreren Phasen verwirklicht werden. Bis 2011 will das Pentagon mit SM-3-Abfangraketen und Aegis-Lenkwaffensystemen ausgerüstete Kriegsschiffe wahrscheinlich im Persischen Golf und im Arabischen Meer, möglicherweise aber auch im Mittelmeer und in der Nordsee kreuzen lassen. Zur Abwehr von Mittel- und Kurzstreckenraketen sollen außerdem mobile Radarsysteme und bodengestützte Anti-Raketen-Raketen THAAD sowie Patriot-PAC-3-Anlagen dienen. Anschließend sollen in der zweiten Phase, etwa im Jahre 2015, derartige Raketen auch auf dem Territorium befreundeter Staaten stationiert werden, um Kurz- und Mittelstreckenwaffen abzuwehren. Bis zum Jahr 2018 wird eine neue, größere und wirksamere Rakete entwickelt und getestet. Sie soll bis 2020 stationiert werden, um dann auch die auf die USA und Europa zielenden Langstreckenraketen wirksam zu bekämpfen. Die alternativen Stationierungspläne hält Iwaschow für einen antirussischen Trick. Ihm zufolge sind die auf Schiffen installierten Aegis-Waffensysteme gegen russische Atomraketen gerichtet. Mit der Aufstellung der seegestützten Raketenabwehrsysteme in Nordeuropa würden die USA den meisten russischen Raketen, die vom Festland und von U-Booten im Nordpolarmeer aus abgefeuert würden, die Flugbahn absperren, meint der Experte. „Wo ist die Garantie, dass diese mobilen Dinger, sei es ein Boot, ein Kreuzer oder ein Kampfschiff, nicht in unser Nordmeer segeln?“, fragt auch Russlands NATO-Botschafter Dmitri Rogosin. Der Leiter des Zentrums Nordeuropa am Europa-Institut der Russischen Wissenschaftsakademie Juri Derjabin, meint, Washingtons Absicht, die Ostsee in die US-Raketenabwehr einzubeziehen, würde die militärisch-strategische Situation in Nordeuropa schwieriger machen: “Die Systeme, die im Ostseeraum installiert werden sollen, können nämlich nicht nur gegen taktische Raketen, sondern auch gegen einzeln lenkbare Mehrfachsprengköpfe von Interkontinentalraketen eingesetzt werden.” Bei dieser Variante würde der gesamte europäische Teil Russlands, in dem der Hauptteil der strategischen Raketentruppen stationiert ist, für potentielle Gegner völlig transparent sein.

Mobile Raketenabwehr

Die Ärzteorganisation gegen den Atomkrieg IPPNW begrüßt zwar den Verzicht auf das Raketenschildprojekt in Polen und Tschechien, weist aber auf eine andere gefährliche Entwicklung hin. „Das ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russland“, lobt die IPPNW-Atomwaffenexpertin Xanthe Hall den Stationierungsstopp. Kritisch beobachten werde die IPPNW aber die Pläne des US-Präsidenten für mobile Raketenabwehrsysteme. Auf der jährlichen Raketenabwehr-Konferenz der US-Armee in Huntsville, im Bundesstaat Alabama, hat der Vizepräsident des Rüstungskonzerns Boeing Greg Hyslop erklärt, seine Gesellschaft entwickle eine Abfangrakete, die bei Bedarf mit von Boeing gebauten C-17 Transportflugzeugen schnell zu NATO-Basen in Europa geflogen, auf einem Trailer in Stellung gebracht und gegebenenfalls auch wieder in die USA zurückgebracht werden könnte. In der Kongress-Studie „Options for Deploying Missile Defenses in Europe“ wird als möglicher Stützpunkt für die mobilen Raketenabwehrsysteme auch die Ramstein Air Base in Deutschland genannt.

Nötigung oder Partnerschaft?

Die von der Weiterverbreitung von Atomwaffen und Raketentechnik ausgehenden Gefahren zu ignorieren, wäre wahrscheinlich ziemlich blauäugig. Der UNO-Sicherheitsrat hat in seiner jüngsten Abrüstungsresolution bekräftigt, dass dauerhafte Sicherheit nur in einer atomwaffenfreien Welt zu erreichen ist. Auf dem Weg dahin aber kann eine Raketenabwehr durchaus einen zeitweiligen Schutz bieten. Allerdings sollten solche Abwehrschirme kooperativ und nicht konfrontativ errichtet werden. Russlands Staatschef Dmitri Medwedjew fordert deshalb einen weltweiten Raketenschutzschild. „Es handelt sich um globale Fragen", sagte der Präsident kürzlich in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN. Es gebe Probleme im Nahen Osten, auf der Korea-Halbinsel und so weiter. „Deshalb muss das Schutzsystem von globaler Dimension sein statt aus einer geringen Anzahl von Raketen zu bestehen, die nur unser Territorium erreichen können, ohne andere Gebiete abzudecken." US-Präsident Obama hat Russland dafür ausdrücklich Zusammenarbeit angeboten und auch von Seiten der NATO kommen Kooperationssignale. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen will Russland für das Mitwirken an einem weitgespannten Abwehrschirm gegen Raketen aus dem Iran oder Nordkorea gewinnen: "Wir sollten die Möglichkeit prüfen, die Raketenabwehrsysteme der USA, der NATO und Russlands zu einem geeigneten Zeitpunkt miteinander zu verbinden". Die Gefahr von Raketenangriffen sei "ein Problem nicht nur für die NATO-Staaten, sondern auch für Russland", betonte Rasmussen und rief zu einer „neuen strategischen Partnerschaft“ der westlichen Militärallianz mit Russland auf. Möglicherweise wird es also bei der Raketenabwehr demnächst eine Zusammenarbeit zwischen Moskau und dem Westen geben. Skeptiker befürchten den Versuch, Russland den westlichen, insbesondere den US-amerikanischen Interessen dienstbar zu machen. Eine optimistischere Interpretation wäre, darin vielleicht den Beginn einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme zu sehen.

* Eine gekürzte Fassung dieses beitrags erschien unter dem Titel "Moskau befürchtet eine Mogelpackung" in: Neues Deutschland, 5. Oktober 2009


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