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Im Wortlaut: "Widerstand um der Menschenwürde willen"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, würdigt die Frauen und Männer des 20. Juli

Die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer des 20. Juli starben nicht umsonst. "Ihr Vorbild wirkt weiter", erklärte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, im Gedenkgottesdienst am Sonntag, 18. Juli, im Berliner Dom. Der Aufstand für die Würde des Menschen habe sie in die Verschwörung geführt, schweren Herzens entschieden sich einzelne zum Attentat. Sie hatten erkannt: "Wo Untätigkeit zur Mitschuld würde, entsteht eine ethische Pflicht zum Widerstand."

Mit der Bezeichnung "Frauen und Männer des 20. Juli" seien die Bekannten ebenso gemeint wie die Ungenannten, deren Wirken in keinem Geschichtsbuch festgehalten sei. "Wir meinen diejenigen, die unmittelbar an dem gescheiterten Attentat beteiligt waren, ebenso wie diejenigen, die ihren Widerstand in Renitenz, Befehlsverweigerung oder Desertion zum Ausdruck brachten." Die Wahrnehmung der Verbrechen an den Juden, an der russischen Zivilbevölkerung oder auch die Fürsorgepflicht für die eigenen Soldaten brachte die Verschwörer dazu, über ein Leben nach Hitler nicht nur nachzudenken oder bei Deutschlands Kriegsgegnern dafür zu werben, sondern es herbeiführen zu wollen. Dass es notwendig werden würde, "dem Rad selbst in die Speichen zu fallen" erkannte zum Beispiel der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer bereits 1933.

Die aktiv am gescheiterten Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 Beteiligten und die Menschen in ihrem Umfeld bildeten keine geschlossene Gruppe, "weder ihrer Herkunft nach noch in ihren Zielen und Motiven", so der Ratsvorsitzende in seiner Predigt. "Aber sie fanden darin zusammen, dass sie die Missachtung und Zerstörung der Menschenwürde durch die Politik und das Handeln der Nationalsozialisten erkannten."

Wolfgang Huber zog eine klare Trennlinie zwischen dem "Widerstand um der Menschenwürde willen" und dem "selbsternannten Märtyrertum, das uns fragen lässt: Für welche Werte darf ein Mensch sein Leben opfern?" Für Christen sei die Erinnerung an den stellvertretenden Tod Christi keinerlei Anhalt dafür, das eigene Leben oder das Leben anderer gering zu schätzen. "Welten liegen zwischen dieser Gemeinschaft mit Christus und einem religiösen Fanatismus, der die eigene Erlösung durch Mord erreichen will, den Mord an sich selbst eingeschlossen."

Die Gesellschaft und auch die Kirche habe sich lange schwer getan, das Planen und Wagen der Frauen und Männer des 20. Juli zu würdigen. Es sei unterschieden worden zwischen dem passiven Widerstand etwa des "Predigers von Buchenwald", Paul Schneider, und dem aktiven Widerstand der Verschwörer. Dabei haben sie alle ihren Protest laut werden lassen, so Huber. "Sie sind alle - je auf ihre Weise - für die Würde des Menschen aufgestanden."

Die Zuwendung Gottes zum Menschen "ruft uns in die Verantwortung für die Welt." Gerade dort müsse die Stimme erhoben werden, wo die Gesellschaft das Schreien der Leidenden überhöre. Er denke dabei besonders an die Opfer von Unfrieden und Hungersnot im Sudan, erklärte der Ratsvorsitzende.

Hannover, 16. Juli 2004
Pressestelle der EKD
Silke Fauzi


Auszug aus der Predigt Hubers

(...) Es ist gut, dass wir an diesem Sonntag an die Taufe erinnert werden, um der Würde und der Freiheit nachzuspüren, in die Gott uns stellt. Und um uns zu vergegenwärtigen, dass diese Zuwendung Gottes uns zur Antwort vor ihm drängt und uns in die Verantwortung für die Welt einweist. Zur „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ führt das, die heute so aktuell ist wie vor sechzig Jahren.

Gerade deshalb verstummt die Frage des Paulus nicht, kann sie nicht verstummen und darf sie nicht verstummen: „Sollen wir denn in der Sünde beharren?“ Wie antworten wir Gott? Und wie achten wir den Nächsten?

Auch vor sechzig Jahren schwieg diese Frage nicht. Sie schwieg nicht in den Gewissen all derer, die wir heute die Frauen und Männer des 20. Juli nennen. Damit meinen wir die Bekannten unter ihnen ebenso wie die Ungenannten, deren Wirken in keinem Geschichtsbuch festgehalten ist. Wir meinen diejenigen, die unmittelbar an dem gescheiterten Attentat beteiligt waren, ebenso wie diejenigen, die ihren Widerstand in Renitenz, Befehlsverweigerung oder Desertion zum Ausdruck brachten. Die Verschwörer des 20. Juli haben über ein Leben nach Hitler nicht nur nachgedacht; sie haben für dieses Leben nicht nur bei Deutschlands Kriegsgegnern geworben; sie wollten dieses Leben nach Hitler auch herbeiführen. Für Würde und Freiheit haben sie ihr eigenes Leben riskiert. „Sollen wir so tun, als wäre nichts geschehen?“ „Sollen wir die Augen verschließen, trotz des Unrechts, das wir um uns sehen?“ Unvergesslich ist mir die erste persönliche Begegnung mit Axel von dem Bussche, einem überlebenden Attentäter, der die Verbrechen an den Juden mit eigenen Augen gesehen hatte und danach nicht länger untätig bleiben konnte.

Von Claus Schenk Graf von Stauffenberg wird berichtet, wie sich seine schon lange währende innere Distanz gegenüber Hitler in die Bereitschaft wandelte, ihn ums Leben zu bringen. Angesichts der entwürdigenden Behandlung der russischen Zivilbevölkerung und russischer Kriegsgefangener geschah das. Auch die Fürsorgepflicht für die eigenen Soldaten brachte ihn dazu, mit der die als sinnlos empfundenen Befehle aus Berlin nicht zu vereinbaren waren. Schlimmer als ein misslungenes Attentat – so sein Bruder Bertold Schenk Graf von Stauffenberg – wäre es, „der Schande und dem lähmenden Zwang tatenlos zu verfallen.“

Dietrich Bonhoeffer war durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi, der im Reichsjustizministerium arbeitete, und durch Friedrich Justus Perels über die Deportationspolitik des NS-Regimes informiert. Mit einer Auflistung des Unrechts sollten die Militärs zum Aufstand bewegt werden. Schon 1933 ahnte er, dass es notwendig sein würde, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“.

Die Aktiven des 20. Juli und die Menschen in ihrem Umfeld bildeten keine geschlossene Gruppe – weder ihrer Herkunft nach noch in ihren Zielen und Motiven. Aber sie fanden darin zusammen, dass sie die Missachtung und Zerstörung der Menschenwürde durch die Politik und das Handeln der Nationalsozialisten erkannten. Sie sahen: Wo Untätigkeit zur Mitschuld würde, entsteht eine ethische Pflicht zum Widerstand. „Sollen wir denn in der Sünde beharren?“

Über diese Menschen erklärte Marion Gräfin Dönhoff: „Der 20. Juli gab dem Widerstand vieler Deutscher, die sich von diesem Regime abgestoßen fühlten, selbst aber zum Handeln zu schwach waren oder nicht über die notwendigen Mittel verfügten, Stimme und Gesicht.“.

Es war ein Widerstand aus Pflicht, ein Widerstand um der Menschenwürde willen. Nicht von jedem Widerstand kann man das sagen, beileibe nicht. Es gibt auch menschenverachtenden Widerstand. Es gibt auch eine Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, die uns erschaudern lässt. Rund um den Globus sehen wir heute ein selbsternanntes Märtyrertum, das uns fragen lässt: Für welche Werte darf ein Mensch sein Leben opfern? Auf wen, auf welche Instanz vermag sich ein Mensch zu berufen, wenn er sein Leben um einer Sache willen riskiert?

„Wenn wir mit Christus verbunden und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.“ So heißt es bei Paulus. Mit Christus in seinem Tod verbunden zu sein, ist kein Selbstzweck. Das Ja zum Leben regiert auch noch diesen Tod. Welten liegen zwischen dieser Gemeinschaft mit Christus und einem religiösen Fanatismus, der die eigene Erlösung durch Mord erreichen will, den Mord an sich selbst eingeschlossen.

Die Erinnerung an die Frauen und Männer des 20. Juli hat nichts zu tun mit einem Fanatismus, der nur Konflikte vertieft statt sie zu überwinden. Für Christen gilt, dass die Erinnerung an den stellvertretenden Tod Christi keinerlei Anhalt dafür gibt, das Leben gering zu schätzen, das eigene so wenig wie fremdes. Christus schätzte sein Leben nicht gering; er setzte es nicht leichtfertig aufs Spiel. Aber er überschätzte es auch nicht; er meinte nicht, mit seinem Tod Wunder zu tun. Er ließ sein Leben anderen zu Gute kommen; das wollten die Machthaber seiner Zeit nicht dulden. Doch die Wahrheit seines Lebens bewährte sich auch im Tod und über diesen Tod hinaus.

IV.

Alles Planen und Wagen der Frauen und Männer des 20. Juli geschah mit dem Ziel, ihr Volk von einem Tyrannen zu befreien. Unsere Gesellschaft und auch unsere Kirche haben sich lange schwer damit getan, dieses Planen und Wagen zu würdigen. Bevor zehn Jahre nach dem Attentat des 20. Juli 1944 „Dank und Bekenntnis“ zu ihrem Handeln laut werden konnten, war ein schwieriges Ringen nötig.

In unserer Kirche wollten manche die Frauen und Männer des 20. Juli als politische Verschwörer und die Glaubenszeugen, die unter der Nazizeit ihr Leben verloren, gegeneinander stellen. Paul Schneider, der genau heute vor 65 Jahren in Buchenwald ums Leben kam, wurde dann als Märtyrer Dietrich Bonhoeffer gegenüber gestellt, der „nur“ ein Verschwörer war. Aber am heutigen Tag trifft die Erinnerung an beide nun unweigerlich zusammen: die Erinnerung an den Prediger von Buchenwald, der das Evangelium aus seinem vergitterten Zellenfenster herausrief, und die Erinnerung an die Verschwörer, die sich, wie Bonhoeffer sagte, in allen „Künsten der Verstellung“ üben mussten, sollte ihr Plan nicht schon im vorhinein zum Scheitern verurteilt sein. An diesem Sonntag wird das Zeugnis der Männer und Frauen des 20. Juli unterstrichen vom im Wortsinne protestantischen Zeugnis des Paul Schneider. Beide haben den Protest laut werden lassen: Der eine im gewaltfreien Zeugnis für das Evangelium der Freiheit; die anderen im Planen und Handeln für ein Deutschland, das um der Menschenwürde willen ein Deutschland ohne den Tyrannen sein musste. Sie sind alle – je auf ihre Weise – für die Würde des Menschen aufgestanden.

V.

Noch eine Klarstellung ist nötig. Die evangelische Tradition denkt und redet hoch von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Gesetz. Doch ausdrücklich fügt das reformatorische Bekenntnis hinzu: „... es sei denn, sie befehlen Sünde zu tun“. Allzu oft wurde dieser klare Zusatz verdrängt und verschwiegen, verheimlicht und missachtet. Der Widerstand aber, so weit er von Christen getragen war, geschah in dem Bewusstsein, dass sich dem Befehl zur Sünde unterwarf, wer den Mordtaten des Dritten Reichs weiter ihren Lauf ließ. „Sollen wir denn in der Sünde beharren?“ Die Frage des Apostels Paulus konnte hier zur Klarheit verhelfen.

Die Pflicht zur Rechtsbefolgung, so ist daraus zu lernen, ist niemals absolut. Politische Loyalität gilt niemals unumschränkt. Der Glaube weiß: Der Gehorsam gegen Obrigkeit und Gesetz findet seine Grenze dort, wo wir Gott mehr gehorchen müssen als den Menschen. Er findet diese Grenze darin, dass der Mensch nicht der letzte Maßstab für den Menschen ist.

Auch an die Frauen und Männer des 20. Juli habe ich deshalb gedacht, als ich mich in den letzten Wochen an dem Bemühen beteiligt habe, dem Gottesbezug Eingang in die Präambel der Europäischen Verfassung zu verschaffen. Ich habe mich dabei an das Vorbild des Grundgesetzes gehalten. Denn dass unser Grundgesetz, wie es ausdrücklich heißt, „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben wurde, muss man auch mit dem Vermächtnis des Widerstands in Verbindung bringen. Wenn unser Grundgesetz um eben dieses Vermächtnisses willen dem Widerstandsrecht Verfassungsrang gegeben hat, unterstreicht es die Grenze, die jeder menschlichen Machtausübung gezogen ist. In der Würde jedes Menschen hat die Ausübung staatlicher Macht Sinn und Maß; jede Bürgerin und jeder Bürger steht in der Verantwortung, staatliches Handeln an diesem Maß zu messen.

Auf eine Haltung sind wir somit verpflichtet, die Richard Schröder einmal so beschrieben hat: „Der Christ beugt sich vor Gott und sonst vor niemandem, er beugt sich aber sehr wohl für andere Menschen“.

Denn die Zuwendung Gottes, aus der wir leben, macht uns frei von der Welt und ruft uns in die Verantwortung für die Welt. Sie ruft zur Wachsamkeit gegenüber falschen Autoritäten und zum Einsatz für die Würde des Menschen. Sie ruft dazu, unerschrocken die Stimme zu erheben, wo diese Würde bedroht ist. Gerade dort muss unsere Stimme hörbar werden, wo unsere Gesellschaft das Schreien der Leidenden überhört. An die Opfer von Unfrieden und Hungersnot im Sudan denke ich heute besonders. Auch an die denke ich, die es am eigenen Leib zu spüren bekommen, wenn man wieder anfängt, die Folter zu einem vertretbaren Mittel staatlichen Handelns zu erklären.

Quelle: Homepage der EKD (www.ekd.de)


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