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Rechtsextremismus fängt im Alltag an und kommt aus der "Mitte" der Gesellschaft

"Aufstand der Anständigen", "Anstand der Zuständigen" - Wie schützt man sich vor "populistischem Geschwätz"?

Es traf sich gut, dass an ein und demselben Tag in der Frankfurter Rundschau einmal ein interessanter Artikel über eine Anhörung im Innen- und Jugendausschuss des Deutschen Bundestages zum Thema Rechtsextremismus erschien und ein paar Seiten dahinter ein wirklich lesenswerter Brief einer FR-Leserin zum selben Thema veröffentlicht wurde. Auch ich bin ins Grübeln gekommen, als ich Schröders Appell an die "Anständigen" vernommen hatte. Wen meinte er damit? Natürlich sich selber. Aber muss man, um den eigenen Arsch hoch zu bekommen, an sich selbst appellieren? Es würde ja reichen, wenn man sich einfach in Bewegung setzt und etwas tut. Wahrscheinlich hatte Schröder noch andere "Anständige" im Sinn. Seine Freunde z.B., die Manager der Autokonzerne vielleicht, denen er das Leben versüßen möchte, die anderen schwerreichen Nutznießer der Steuerreform, die politische Klasse in Berlin, die nun doch einen freundschaftlichen Klaps auf den Popo braucht, nachdem sie jahrzehntelang auf dem rechten Auge blind gewesen war?

Die Linke, die Antifa, die Friedensbewegung, die vielen, aber im großen Mahlstrom der Wendezeit doch minoritären und wenig wahrgenommenen radikalen Demokraten hierzulande wird Schröder wohl nicht gemeint haben. Die lässt sein Innenminister, Otto Schily, ja nach wie vor von jenem Amt verfolgen, das angeblich zum "Schutz" der Verfassung gegründet worden war. Tatsächlich tauchen in den jährlichen Berichten des Bundesamts für Verfassungsschutz die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die Jungedmokraten und der Bundesausschuss Friedensratschlag auf - unter der Rubrik "linksextremistische Bestrebungen". ((Vgl. unseren Bericht vom Juni 2000).

Ja, es ist schon richtig, wenn die Politiker, die zur Zeit ihr Maul gegen Rechts sehr voll nehmen, selbst eins auf's Maul bekommen - und zwar von Links. Verdient haben sie es allemal. Vielleich lernen sie ja wirklich etwas daraus, zum Beispiel dass der Kamof gegen Rechts nur gemeinsam geführt werden kann.


Rechtsextremismus fängt im Alltag an

Von Pitt von Bebenburg

Rechtsextreme Alltagskultur ist in vielen Orten erschreckend stark verwurzelt - ohne dass die Institutionen etwas dagegen tun. Das berichteten Wissenschaftler am Mittwoch bei einer Anhörung von Innen- und Jugendausschuss des Bundestags. Um gegen das Phänomen vorzugehen, brauche es "mehr und anderes als 25 Millionen Mark plus" von der Bundesregierung.

BERLIN, 25. Oktober. Hajo Funke vom Otto-Suhr-Institut der FU Berlin spießte eine Äußerung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) auf. Zum "Aufstand der Anständigen", zu dem Schröder aufgerufen hatte, müsse der "Anstand der Zuständigen" hinzukommen, sagte Funke bei der Anhörung der Ausschüsse in Berlin, zu der mehr als 200 Zuhörer gekommen waren. Funke berichtete von dem Ort Schönbruch, 25 Minuten Autofahrt von der Hauptstadt Berlin entfernt, der von 20 Rechtsextremisten terrorisiert werde. Die Offiziellen täten nichts dagegen - "der Bürgermeister nicht, die Schulen nicht, die Verwaltung nicht und schon gar nicht die Polizei". Deren Beamten kämen, wenn sie gerufen würden, entweder gar nicht oder zu spät. In seinem schriftlichen Beitrag zur Anhörung nannte Funke mit Guben und Wriezen weitere Beispiele. Dies sei nur die Spitze des Eisbergs, denn "in weiten Teilen Brandenburgs", aber auch in anderen ostdeutschen Ländern, "dominieren solche Zonen". Als erste Konsequenz daraus forderte Funke "eine entschiedenere Wahrnehmung der Aufgaben, die dem Staat und den politisch Verantwortlichen obliegen". Dazu zähle eine bessere demokratische Ausbildung der Polizei und eine flexiblere öffentliche Präsenz an Gewalt-Brennpunkten.

Für Bernd Wagner vom Zentrum Demokratische Kultur läuteten Rechtsextreme einen "Kulturkampf gegen die Demokratie" ein. Ziel müsse es sein, "die Alltagsdiskurse zu verändern" - anderenfalls bleibe der Kampf für die Demokratie "ein Torso".

Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer mahnte, nicht nur das Phänomen der Gewalt zu bekämpfen. Sie stehe "am Ende der Kette - wir müssen aber sehen, wie wir an den Anfang kommen".

Der Präsident des Verfassungsschutz-amtes, Heinz Fromm, schilderte ebenfalls die Bedrohung durch rechtsextreme Alltagskultur. Mit der einschlägigen Musikszene verfüge "der Rechtsextremismus erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte über ein für Jugendliche attraktives Angebot", warnte der Geheimdienst-Chef. Er hob zugleich "die mögliche Herausbildung terroristischer Strukturen" sowie die "Bündelung der Potenziale von NPD, Neonazis und Skinheads" als Gefahren hervor.

Die dramatische Lage müsse auch deutliche politische Konsequenzen zeitigen, forderten mehrere Sachverständige von den Abgeordneten des Parlaments. Funke plädierte für eine Stiftung, für die eine Milliarde Mark zur Verfügung gestellt werden solle, um die "Nachdemokratisierung" vor allem ostdeutscher Jugendlicher künftig zu fördern.

Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer schlug als Initiative gegen "ängstliche Provinzialität" vor, 5000 bis 10 000 Auslandsstipendien für junge Ostdeutsche auszuschreiben. Erfreut zeigten sich Mitglieder der beiden Ausschüsse des Bundestags über das rege Interesse von Abgeordneten, Medien und Öffentlichkeit. Der innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz, sagte, so viele Parlamentarier habe er noch nie bei einer Anhörung erlebt. Dies sei "sehr ermutigend".
Aus: Frankfurter Rundschau, 26. Oktober 2000

Jede Art von Ausgrenzung führt letztlich zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus

Was in Griedelbach der kleinen Shawna und ihrer Familie passierte ich meine nicht den Überfall selbst - zeigt einmal mehr, wie sehr Skinheads, Rechtsradikale und Menschen mit rassistischer Gesinnung davon überzeugt sein können, die Dreckarbeit für andere, für Gleichgesinnte, zu machen. Und darin liegt die eigentliche Gefahr für unsere Demokratie.

Da ruft ein Bundeskanzler dazu auf, dass "die Anständigen aufstehen sollen", da rufen andere Politiker entweder nach härteren Gesetzen oder spielen das Problem herunter, da sollen die Schulen mehr über die NS-Zeit aufklären (wobei ich mich frage, wie ein Skinhead durch mehr Aufklärung zu einer Verhaltensänderung gebracht werden oder ein Jugendlicher durch mehr Aufklärung erst gar nicht rechtsradikal werden soll), da klagen Manager darüber, dass das Image der Deutschen im Ausland Schaden genommen habe und deshalb schärfstens gegen Rechtsradikale vorgegangen werden müsse. Was geschieht tatsächlich? Da "ahndet" die Justiz - wie bei dem Überfall in Griedelbach - eine eindeutig rassistische Tat mit 300 Mark, da wird von offizieller Seite immer heruntergespielt, was sich in der Bundeswehr an braunem Sumpf verbreitet, da verhalten sich Polizisten in Ausübung ihres Amtes fremdenfeindlich, ohne dass sie mit größeren Konsequenzen zu rechnen haben, da reden Politiker von Überfremdung und dürfen mit Sprüchen wie "Kinder statt Inder" agitieren.

Die Gefahr geht nicht in erster Linie von denen aus, die morden, totschlagen und Brände legen. Es gibt genügend Gesetze , die zur harten Bestrafung dieser Straftäter ausreichen. Die Gefahr geht von denen aus, die zwar nicht morden oder totschlage, deren Gesinnung aber rassistisch und fremdenfeindlich ist. Und diese Gesinnung scheint weiter verbreitet zu sein, als wir wahr haben wollen, man denke nur daran, wie in unserer Gesellschaft ausgegrenzt wird. Jede Art der Ausgrenzung von Minderheiten führt aber in ihrer Konsequenz zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. In allen öffentlichen Reden nach Brandanschlägen und Morden wird immer wieder gebetsmühlenartig auf die Vergangenheit der Deutschen hingewiesen und aus der daraus erwachsenen Verantwortung. Ich frage mich, für wen diese Reden gehalten werden. Werden sie, wie es eigentlich immer geschah, für das Ausland gehalten? Die angesprochene spezielle Verantwortung hat hier doch nur die Großelterngeneration.

Das ist ihre Vergangenheit. Es ist ihr Problem, mit ihrer individuellen Schuld fertig zu werden.Und besonders die junge Generation kann man mit diesen pathetischen Reden sowieso nicht beeinflussen. Außerdem scheinen viele dieser Redner keinen Entwicklungsprozess durchgemacht zu haben. Sie reden von der historischen Verantwortung, weil es gut im Ausland ankommt. Statt ständig auf die deutsche Vergangenheit zu verweisen, wodurch kein Angolaner, kein Asylbewerber, kein Obdachloser, kein Deutscher mit "undeutschem" Aussehen vor Mord und Totschlag oder "nur" Anpöbeleien oder mieser Behandlung bei Behörden geschützt wird, wäre es höchste Zeit, jede rassistisch und fremdenfeindlich begründete Handlung und Äußerung als äußerst inhuman und damit verwerflich zu bezeichnen und gegen sie vorzugehen, auch mit juristischen Mitteln. Das wäre ein Zeichen von Verantwortung. Die Vergangenheit kann man nicht rückgängig machen, aber jeder Mensch ist verpflichtet, die Gegenwart so human wie möglich mitzugestalten. Das gilt ganz besonders für Menschen, die Einfluss in relevanten Bereichen der Gesellschaft haben. Die "Anständigen" zum Aufstehen zu bewegen ist nichts anderes als populistisches Geschwätz und eigentlich ein Schlag ins Gesicht derer, die sowieso schon um Leib und Leben Angst haben müssen.
Barbara Nyiondi, Steinbach
Leserbrief aus der Frankfurter Rundschau, 26.10.2000

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