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Wohin bitte führt der Antikommunismus?

Gedanken wider die Verfälschung einer historischen Tatsache und eines Ausblicks

Von Ellen Brombacher *

Es ist eine Straftat«, so kürzlich der ungarische Philosoph G. M. Tamas über sein Land, »wenn man sagt, dass es in den 60er Jahren eine größere Gerechtigkeit in der Gesellschaft gab als heute«. Wohl keine Straftat hingegen ist es, wenn Orbanfreund Zsolt Bayer jüngst in einem der Regierungspartei FIDESZ nahestehenden Blatt, »Magyar Hirlap«, beklagt, dass 1919, in der Zeit des Weißen Terrors, in Ungarn nicht genügend Linke ermordet worden seien. »Leider gelang es nicht, alle bis zum Hals im Wald von Orgovany zu verscharren«, schrieb er. Rechtsradikale Freikorps begingen nach Niederschlagung der Räterepublik diese Bestialität unweit von Budapest.

Dem ungarischen Reichsverweser Horthy werden Verbrechen an Linken gedankt. Am gewesenen Sozialismus hingegen darf kein gutes Haar gelassen werden, nicht nur in Ungarn. Darauf zielt auch die jüngste Initiative der Außenminister Bulgariens, Lettlands, Litauens, Ungarns, Rumäniens und Tschechiens, die fordern, innerhalb der EU eine gesetzliche Verfolgung all jener Personen anzustreben, die nicht bereit sind, die »Verbrechen des Kommunismus« anzuerkennen. Die Verbrechen des Kapitalismus oder die im Namen des Christentums begangenen Untaten stehen nicht zur Debatte.

Es geht eben nicht um Verurteilung von im gewesenen Sozialismus begangenem Unrecht, sondern um Denunziation des Versuchs, den Kapitalismus, der beide Weltkriege, den Faschismus sowie ungezählte weitere Untaten zu verantworten hat, durch eine Gesellschaftsordnung abzulösen, in der Profitmaximierung nicht mehr Maß aller Dinge ist. Wie unterschiedlich Meinungen auch sein können, eines lässt sich gewiss sagen: Den Sozialismus auf seine Negativseiten zu reduzieren, verfälscht historische Tatsachen.

Die angemessenste und inzwischen auch populärste Kommunismusdefinition findet sich im Kommunistischen Manifest: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«

Eine Charakteristik, die zumindest in der PDS gang und gäbe war. Man kann darüber streiten, ob die z.B. im Brockhaus 2002 definierten Kommunismusvorstellungen jedenfalls absehbar eine Chance haben, zur Realität zu werden. Es handele sich um eine Gesellschaftsordnung, »in der es keine Klassenunterschiede gibt, die Produktionsmittel, die Produktion und die Güterverteilung in den Händen der Gesellschaft liegen, jeder gleichen Zugang zu den Gebrauchsgütern hat und der Staat mit seiner Zwangsgewalt zugunsten freiwilliger Zusammenarbeit verschwunden ist.« Aber ist es wirklich zu bestreiten, dass eine solche Gesellschaftsordnung die Vermenschlichung des Menschen am ehesten ermöglichte?

Die jüngste Debatte zum Kommunismusbegriff war grotesk. Kaum ein Wort, was der Begriff bedeutet. Ein Streit über Inhalte hätte deutlich gemacht, dass es den vielgescholtenen Kommunismus als gesellschaftliches System bisher nicht gab. Nirgendwo wurde der in der Kritik am Gothaer Programm von Marx benannte »enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten«, nirgendwo konnte »die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Was wir erlebt und gestaltet hatten, war eine Übergangsgesellschaft, über die Engels schrieb, das sei der schwierigste Stoff, den es gibt.

Vom Bild einer reifen nichtkapitalistische Gesellschaft zu behaupten, es sei schon Realität gewesen, um dann zu schlussfolgern, an dessen realen (und auch vermeintlichen) Negativseiten habe sich gezeigt, dass die Ausbeutergesellschaft die moralisch und auch sonst weitaus überlegene Gesellschaft sei, ist ein Musterbeispiel für Demagogie. Das habe so niemand gesagt? Ja, was denn sonst?

Hinzu kommt, dass die veröffentlichte Meinung den Faschismus nicht als eine Bewegungsform des Kapitalismus behandelt, sondern als ein diktatorisches System, dessen ökonomische Grundlagen vertuscht werden und dessen Identität mit dem »Kommunismus« qua Totalitarismusdoktrin behauptet wird, mit konkreten Auswirkungen auf die Strafgesetzgebung verschiedener europäischer Länder.

Eine im Sommer 2010 in Kraft getretene Ergänzung des polnischen Strafgesetzbuches sieht vor, jedes »Propagieren« faschistischer und »anderer totalitärer Ideen und Symbole« mit Strafen bis zu zwei Jahren Gefängnis zu ahnden. Verboten sind z.B. T-Shirts mit dem Porträt Che Guevaras oder dem roten Stern. Elod Novak, Vizechef der ungarischen faschistoiden Jobbik-Partei, fordert den Abriss des einzig verbliebenen sowjetischen Kriegerdenkmals in Budapest. Auch Jobbik kann sich dabei auf die bürgerliche Gesetzeslage berufen, die jegliche Symbole des »Autoritarismus« verbietet. Zeichen der Arbeiterbewegung sind somit dem Hakenkreuz gleichgestellt. Ebenso ist in Litauen die Verwendung kommunistischer Symbole bei Strafe untersagt. Im Baltikum wurden schon vor Jahren Denkmale für im Kampf gegen den Faschismus gefallene sowjetische Soldaten an Stadtränder verbannt und – noch bevor dies geschah – Gedenksteine für die mit den Deutschen kollaborierenden lettischen, litauischen, estnischen SS-Schergen sowie »Hilfswilligen« errichtet. Baltischen Kollaborateure – heute noch Lebende marschieren hin und wieder in SS-Uniformen durch die Straßen baltischer Städte – gehörten zu den grausamsten Schlächtern, auch hunderttausender Juden.

Was soll man eigentlich einer veröffentlichten Meinung noch abnehmen, die derartige Ungeheuerlichkeiten wie ein Kavaliersdelikt oder überhaupt nicht behandelt und aufschreit, wenn über Wege aus dem Kapitalismus nachgedacht wird? Und was einer Ministerin, die Distanzierungen von Linken zur Bedingung für die Förderung von Strukturen macht, die Neofaschismus bekämpfen?

1942 bezeichnete Thomas Mann den Antikommunismus als »Grundtorheit unserer Epoche«. Da stöhnte fast ganz Europa unter den faschistischen Stiefeln. Die Krematoriumsöfen in den Vernichtungslagern brannten Tag und Nacht. Allein in Belorussland wurden 619 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Massaker in Griechenland, Jugoslawien und andernorts in Europa waren an der Tagesordnung. Und einer der Gründe für all das war der Antikommunismus, also der Gegensatz von dem, was Hitler als Erkrankung des politischen Instinkts der Deutschen diffamierte.

Der Antikommunismus, nicht nur faschistischer Prägung, ist der konzentrierteste Ausdruck der reaktionärsten Auffassungen über die Natur des Menschen. Die Umwandlung einer Gesellschaft, in der in täglich zunehmendem Maße die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden, in eine Gesellschaft, in der das Allgemeinwohl im Mittelpunkt steht, müsse aufhören, so die Sozialdarwinisten, demokratisch zu sein. Der Mensch tauge nicht für Umstände, unter denen – durch die Veränderung der Eigentumsverhältnisse – die Gewinne der Ausgestaltung der Gesellschaft zugute kämen. Der Mensch sei nicht geschaffen, für das Allgemeinwohl zu wirken. Das habe schon einmal nicht funktioniert. Mit dem Wegfall der Profitdominanz ersetze die politische Diktatur die ökonomischen Hebel und zerstöre die untaugliche Idee einer gerechten Welt. Der Kapitalismus sei zwar partiell ungerecht, aber in ihm sei der Einzelne frei in seinem Tun und Sagen.

Es sei hier auf jegliche Polemik über die Freiheit des Einzelnen – ob er Hartz-VI-Empfänger oder Bankmanager, ob er ein Verhungernder in der Dritten Welt oder Konzernchef eines Afrika ausplündernden Unternehmens ist – verzichtet. Aus dem reaktionären Menschenbild folgt die vermeintliche Notwendigkeit sozialer Ungleichheit und demzufolge die Verteuflung jeglicher Forderung, nicht nur nach sozialer Gleichheit, sondern bereits nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Und wo von der naturgegebenen sozialen Ungleichheit die Rede ist, da folgt auf dem Fuße, erinnert sei an Sarrazin, das im Kern immer chauvinistische, immer nationalistische und oft auch rassistische – in jedem Falle gefährliche – Geschwätz vom Konkurrenzverhältnis der Nationalitäten zueinander.

Sozialrassistische Thesen und Antikommunismus haben einen tiefen, auf einem zynischen Menschenbild basierenden inneren Zusammenhang, der die totale Denunziation des gewesenen Sozialismus impliziert – jede Überlegung an eine nichtkapitalistische Gesellschaft tabuisierend. Aber ohne Geschichtsrevisionismus ist diese Tabuisierung nicht möglich. Zukünftige Generationen sollen vergessen haben, welches Land die Hauptlast bei der Zerschlagung des Faschismus trug und welche ungeheuren Blutopfer nicht zuletzt Kommunisten in ganz Europa im antifaschistischen Widerstandskampf erbrachten. Zukünftige Generationen sollen in den Kämpfern an der Ostfront – ob Deutsche, Balten, Ungarn oder sonstige europäische SS-Einheiten – die Verteidiger des Abendlandes vor dem Bolschewismus erblicken. Dahin, nur dahin geht der Trend des Zeitgeistes.

Faschismusverharmlosung und Antikommunismus bilden eine stetig unheilvoller werdende Allianz, und daher dürfen wir, Linke, Humanisten, nicht verhehlen, dass der Kampf gegen den Antikommunismus zunehmend und nicht zuletzt wieder ein antifaschistischer ist. Das schulden wir auch den Millionen Opfern.

Teilnehmer einer von der VVN-BdA organisierten Gedenkstättenfahrt besuchten, nachdem sie im ehemaligen Vernichtungslager waren, auch das polnische Städtchen Oswiecim, nach dem das KZ Auschwitz benannt worden ist. Sie besichtigten auf dem Marktplatz des Ortes auch eine Ausstellung des mit der Birthler-Behörde vergleichbaren staatlichen polnischen Geschichtsinstituts. Sie lasen – in Polnisch, Englisch und Deutsch – den Satz: »Das kommunistische Gefängnis war das weitaus schlimmere als Auschwitz.«

Dahin führt Antikommunismus.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Januar 2011


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