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Am Pranger im Parlament

Die Linke und der Antisemitismus: Anmerkungen zu einer Debatte des Bundestages

Von Norman Paech *

In der vergangenen Woche ging es im Plenum des Bundestages um Antisemitismus – nicht in unserer Gesellschaft, sondern um den angeblichen in der Partei Die Linke. Die Vorlage, die CDU und FDP dafür benutzten, war ein Pamphlet zweier einschlägig bekannter sogenannter antideutscher »Wissenschaftler«, welches von der Presse in die Öffentlichkeit lanciert worden war. Diese »Studie« ist wissenschaftlich wertlos und von solch lausiger Qualität, daß sie notgedrungen jeden disqualifizieren muß, der sich davon inspirieren läßt. Und so war denn auch diese »Aktuelle Stunde«, in der elf Redner und eine Rednerin eine Kollegin vor sich hertrieben, um eine Fraktion fertigzumachen. Platz für eine argumentative Verteidigung wurde ihr nicht gelassen. Für viele Sternstunden der Debattenkultur ist der Bundestag ohnehin nicht bekannt, aber in dieser Stunde war es stockdunkel im Hohen Haus.

Keine Begriffsdefinition

Die Schwierigkeit jeder Antisemitismusdiskussion beginnt mit dem Begriff. Was ist eigentlich unter Antisemitismus zu verstehen? Die Abgeordneten haben keinen Begriff, die beiden Autoren ebenfalls nicht, obwohl sie sich auf eine Arbeitsdefinition der Europäischen Union berufen. Legt man diese allerdings dem Verhalten der Linkspartei als Maßstab an, wird die Substanzlosigkeit der Vorwürfe sofort klar.
  • Erstes Kriterium der EU ist »das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung«, was z. B. mit der Behauptung, die Existenz des Staates Israels sei ein rassistisches Unterfangen, erfüllt sei. Niemand in der Linken hat jemals diesen Unsinn behauptet. Der Nachweis des Rassismus in der aktuellen Politik eines Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman allerdings und die Warnung vor den rassistischen Gefahren, die in der Proklamation eines rein jüdischen Staates angesichts 1,5 Millionen Araber in Israel liegen, sind keine Erfindung der Linken, sondern das Ergebnis verbreiteter kritischer Analysen der israelischen Politik.
  • Zweitens: »Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird«. Mit diesem Kriterium sollte man lieber die Einstellung jener Israel-Freunde und Antisemitismuskritiker beurteilen, die den offenen Völkerrechtsnihilismus der israelischen Politik akzeptieren und die Kriegsverbrechen des Gaza-Krieges sowie die Praxis der gezielten Tötungen ungesühnt lassen wollen. Es ist gerade die Forderung der Linken, daß Israels Besatzungspolitik und Kriegsführung die gleichen völkerrechtlichen Regeln einhält, wie sie von allen Staaten der UNO gefordert werden. Wer Omar Al-Baschir und Muammar Al-Ghaddafi mit Haftbefehlen vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen will, sollte die Verantwortlichen des Gaza-Krieges Ehud Barak, Tzipi Livni und Gabi Aschkenasi nicht aussparen. Ist das eine antisemitische Forderung?
  • Ein drittes Kriterium nennt »das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben«. Es gibt Antisemitismus in dieser primitiven Prägung, jedoch nicht bei der Linken. Der Vorwurf gezielter ethnischer Säuberung scheint allerdings für die Antisemitismuskritiker von ähnlicher antisemitischer Substanz zu sein. Nur ist er leider nachweisbar, und er stammt von jüdischen Wissenschaftlern selbst.
  • »Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.« Dieses vierte Kriterium, wenn es denn eines für Antisemitismus ist, finden wir immer wieder – insbesondere bei jüdischen Kritikern der Politik Israels. Von der Linken hört man diesen Vergleich nicht, sie hat sich wiederholt und nachdrücklich von derartigen Vergleichen distanziert. Wer von israelischen Politikern aus der eigenen historischen Leidenserfahrung Sensibilität gegenüber dem Leiden der Palästinenser fordert, vergleicht nicht die Judenverfolgung im Dritten Reich mit dem Umgang Israels mit den Palästinensern, wie es mir vorgeworfen wird. Ich erinnere nur eine Gesellschaft, die ihre staatliche Existenz derart zentral mit der Erfahrung des Holocaust begründet, an die Verantwortung gegenüber dem Nachbarn.
  • Schließlich das fünfte Kriterium: »Das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen«. Auch dieses genuin antisemitische Syndrom ist bei der Linken nicht nachweisbar. Es findet sich jedoch spiegelbildlich bei jenen Kritikern und vorgeblichen Israel-Freunden, die umstandslos Juden und Judentum mit Zionismus, Israel und israelischer Politik identifizieren. Ihr Vorwurf an Mitglieder der Linken, sich nach der Rede Schimon Peres’ nicht von den Stühlen erhoben zu haben und Außenminister Lieberman der Korruption zu bezichtigen, ist genau die Kehrseite des antisemitischen Ressentiments, welches die Kritik an den Politikern zur Kritik an den Juden macht. Man mag den Linke-Politikern vorwerfen, den parlamentarischen Komment nicht beachtet zu haben. Doch das ist nicht antisemitisch, wenn man einen Politiker nicht zusätzlich ehren will, der für Okkupation, Landraub und Vertreibung mitverantwortlich ist, der den Gaza-Krieg befürwortet und die Stunde zur Rechtfertigung dieser Politik nutzt. Die mangelnde Unterscheidung zwischen Politik und Judentum, d.h. die Identifizierung von israelischer Politik und kollektiver Charaktereigenschaft der Juden kennzeichnet gerade das antisemitische Ressentiment. Es tarnt sich nur mit einer zweifelhaften Israel-Solidarität, die nicht wahrnehmen will oder der es gleichgültig ist, daß ihre Verteidigung einer Politik gilt, die sich selbst in den Abgrund treibt – und das mit »standing ovations« in Berlin und Washington.
Wenn alle diese Kriterien also nicht den Nachweis des Antisemitismus erbringen können, muß ein Sammelsurium anderer Sonderbarkeiten her, um zumindest den Eindruck des Antisemitismus zu stabilisieren: eine Internetseite mit eindeutig antisemitischem Emblem, von dem sich die Partei jedoch sofort distanziert und Strafanzeige gegen den Urheber erstattet hat; die Teilnahme an der Free-Gaza-Flottille, die die völkerrechtswidrige Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollte; die Forderung, daß mit Hamas verhandelt werden muß, was auch der frühere israelische Botschafter Avi Primor fordert; ein palästinensischer Schal mit einer Landkarte von Palästina ohne die Grenzen Israels, die exakt den Landkarten entspricht, die in Israel mit der Überschrift »Israel« seit vierzig Jahren verkauft werden; die Aufforderung zum Boykott israelischer Waren, von der sich allerdings Partei- und Fraktionsspitze distanziert haben ...

Eigene Befindlichkeiten

Die Tabuisierung dieser inzwischen auf allen Kontinenten unterstützten Kampagne hier in Deutschland macht insbesondere eines deutlich. Es geht den Kritikern gar nicht um die Juden, schon gar nicht um den Schutz der jetzt in Israel lebenden Juden, um die Existenz ihres Staates. Es geht ihnen um ihre eigene Befindlichkeit, ihr beschädigtes Gewissen, »um die Regulierung ihres gestörten emotionalen Haushalts«, wie es Moshe Zuckermann als typisch regressive Bewältigung der Vergangenheit beschreibt. Wahrscheinlich geht es den meisten nicht einmal mehr um die Sicht nach innen, um die Verantwortung vor der eigenen Moralität, sondern um die Sicht nach außen: wie stehe ich da, was sagen die anderen, die politischen Konkurrenten, schließlich die Wähler? Es geht auch nicht um die Bekämpfung des realen Antisemitismus, den man ohnehin in seiner definitorischen Beliebigkeit nicht mehr präzise fassen kann. Der Begriff verschwimmt zunehmend mit der Inflationierung seines Gebrauchs und dem ideologischen Kurzschluß, der Judentum, Zionismus, Holocaust, Israel und israelische Politik zu einem Element zusammenbindet. Dafür stehen die jetzt gebräuchlichen Konstruktionen eines antiisraelischen oder antizionistischen Antisemitismus. Sie sollen dem Kritiker der israelischen Politik und ihrer zionistischen Mission auch das letzte Schlupfloch aus der Antisemitismusfalle nehmen: die Kritik der Politik sei nur der Mantel, unter der sich die antisemitische Gesinnung verstecke.

In dieser Funktion ist der Antisemitismusvorwurf das verlogene Mittel für ganz andere Ziele und Interessen im internen politischen Machtkampf der Bundesrepublik. So wie der Titel des Pamphlets den Tenor vorgibt: »Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit«, kommt das Echo aus dem Plenum mit einem vielstimmigen »Nein«. Das ist allerdings nicht das zentrale Problem der Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs, denn die Absage an jegliche Koali­tion ließe sich auch anders begründen. Gefährlicher ist: Hinter dem Vorwurf, der wie eine Sichtblende hochgezogen wird, verschwindet die erschreckende Barbarisierung israelischer Politik, die nicht nur nach dem Urteil von Alfred Grosser und Moshe Zuckermann gerade dem Antisemitismus kräftig Nahrung gibt. Wenn im US-Kongreß die radikale Opposition Netanjahus gegen Barack Obamas Vermittlung gefeiert und im Bundestag die Kritik der Linken an Netanjahus Radikalität als Antisemitismus disqualifiziert wird, erwächst daraus keine Hoffnung für Israelis und Palästinenser auf eine Friedenslösung, sondern nur die Drohung weiterer Gewalt und Zerstörung.

* Der Völkerrechtler Prof. Norman Paech war von 2005 bis 2009 für Die Linke Abgeordneter des Bundestages. Längere Fassung im Internet: www.norman-paech.de

* Aus: junge Welt, 1. Juni 2011


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