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Perspektive der Opfer als Spiegelbild

Der Untersuchungsausschuss zum Nazi-Terrorismus muss auch gegen ganz alltäglichen Rassismus antreten

Von René Heilig *

Verglichen mit öffentlichen Auftaktveranstaltungen anderer Untersuchungsausschüsse war der Medienandrang zum NSU-Gremium am Donnerstagnachmittag eher bescheiden.

Es geht um zehn Morde, die vom sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) begangen worden sind. Es starben acht türkische und ein griechischer Händler sowie eine Polizistin. Ob da ein Untersuchungsausschuss, der sich zugleich um das Fehlverhalten der Sicherheitsbehörden kümmern soll, wohl etwas bringt? Es gibt - obwohl erfahrene Mitarbeiterteams agieren - wenig Grund, in Optimismus zu schwelgen.

Am Donnerstagvormittag hatten sich die Ausschussmitglieder unter anderem drei Videos, die die Mitglieder der »Zwickauer Zelle« als Beleg ihrer Morde hinterlassen haben, angeschaut. »Die Sequenzen zeugen von einer Abgründigkeit, die sich viele nicht haben vorstellen können«, fasst Ausschusschef Sebastian Edathy (SPD) zusammen - während andere Abgeordnete Kaffee orderten und sich Pflaumenkuchen schmecken ließen.

Man wollte die öffentlichen Beratungen bewusst damit beginnen, das Geschehen aus der Sicht der Opfer und deren Hinterbliebenen zu betrachten, hieß es. Was auch sonst hätte man tun sollen? Angeforderte Akten werden erst in den kommenden Wochen eintreffen. Die drei dünnen Ordner, die Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst bislang vorgelegt haben, sind unergiebig.

Auskunft gab also zunächst Barbara John, einst Ausländerbeauftragte des Berliner Senats und seit dem 20. Dezember Ombudsfrau der Bundesregierung für Opfer und Opferangehörige der »Zwickauer Zelle«. Die engagierte Frau verdient jeden Respekt - im Gegensatz zu jenen, die sie eingesetzt und als Feigenblatt vor die eigene Untätigkeit gehängt haben.

Erst am Montag (5. März) bekam die Regierungsbeauftragte einen Mitarbeiter - auf 400 Euro-Basis. Kein Telefon, kein Büro - einfach nichts und niemanden gab man ihr bislang an die Hand, um für die Opfer und deren Angehörigen zu streiten. Dabei ist die Bürokratie übermächtig, ja sogar schamlos genug, die 10 000 Euro Soforthilfe, die einige Familien inzwischen erhalten haben, mit staatlichen Hilfen zur Grundsicherung zu verrechnen.

Wie einfach solch bürokratische Herzlosigkeit aus der Welt zu schaffen ist, zeigte sich innerhalb von vier Stunden. Am Ende der Sitzung hatte FDP-Obmann Hartfrid Wolff via Justizministerium beim Sozialministerium erreicht, dass die Freistellung erfolgt.

Doch es geht um mehr, viel mehr: Aufenthaltstitel sind gefährdet, Stipendien fallen weg, Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz erfolgen - so überhaupt - verzögert. Das Kind eines Opfers wird in seiner Kölner Berufsschule allmorgendlich mit »Heil Hitler« begrüßt, die Schulleitung winkt ab. Berufsgenossenschaften haben zunächst, weil die Täter ja noch nicht ermittelt sind, Zahlungen verweigert.

Weil die Polizei - die sich wider besseren Wissens nicht auf die rechtsextremistische Tätersuche begeben hat - die Opfer verdächtigte, in Mafiastrukturen verstrickt und so selbst schuld an ihrem Schicksal zu sein, wurden Familien aus ihrem sozialen Umfeld gestoßen. Freunde wandten sich ab.

Die Angehörigen der Opfer haben die große Hoffnung, dass sich in dem Land, in dem sie leben wollen, etwas ändert, dass Rassismus keine Chance hat, Leben zu nehmen und Glück zu zerstören, berichtete Barbara John und erledigte einen Gutteil der Ausschussarbeit gleich selbst. Auf nur einem Blatt Papier gab sie Empfehlungen. Ganz oben steht das Wort »Gedenkorte«. Die Taten der Rassisten dürfen nicht aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht werden. Für Michèle Kiesewetter, die von den NSU-Terroristen ermordete Polizistin, hat die Stadt Heilbronn bereits vor Jahren einen solchen Ort geschaffen.

John will, dass die Polizeiausbildung gemäß den Notwendigkeiten eines Einwanderungslandes verändert wird, dass es eine Clearingstelle für polizeiliches Fehlverhalten gibt. Zudem müssten Opferberatungsstellen mehr Aufmerksamkeit genießen.

Wie Barbara John, so machten auch Martina Linke als Vertreterin des »Weißen Rings« und Christina Büttner als Sprecherin der Mobilen Opferberatungsstelle »Ezra« in Thüringen klar: Rassismus zu bekämpfen, ist mehr als die grausame Mordserie des NSU aufzuklären. Doch selbst davon scheinen die Zuständigen meilenweit entfernt zu sein.

* Aus: neues deutschland, 10. März 2012


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