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Hilflos in der Dresdner Menschenkette

Stadt und Polizei beschränken Protest in Sichtweite der Nazis, denen am 13. Februar Straßen geräumt werden

Von Hendrik Lasch, Dresden *

Trotz der erfolgreich wiederholten Menschenkette herrscht in Dresden nach dem 13. Februar Enttäuschung über hilfloses Vorgehen der Stadt gegen den alljährlichen Naziaufmarsch.

Schauspieler des Dresdner Staatsschauspiels sind mit einem Transparent gekommen. "Gedenken allein reicht nicht", steht auf dem Plakat, dass Intendant Wilfried Schulz und zwei Mitstreiter der Polit-Prominenz am Rathaus entgegen halten. Dort begrüßt Detlef Sittel, der amtierende Rathauschef, die Teilnehmer der Menschenkette, die am Jahrestag der Zerstörung der Stadt deren Zentrum gegen einen Aufmarsch von Nazis abschirmen wollen - symbolisch. "Wir haben im Ensemble sehr debattiert, ob es sinnvoll ist, sich in die Kette einzureihen, wenn die sich den Rechten nicht wirklich entgegen stellt", sagt Schulz. Die Theaterleute sind doch gekommen: mit dem Plakat. Zufrieden ist der Intendant nicht: "Die Hilflosigkeit der Stadt macht uns mit hilflos."

Nicht nur den Theaterchef beschleichen an diesem 13. Februar 2011 zwiespältige Gefühle. Auf der einen Seite ist der Aufruf der Stadtspitze, wie schon 2010 eine Menschenkette zu bilden und auf diese Weise "dem Missbrauch des Gedenkens entgegenzutreten", wie es Sittel formuliert, von einer großen Zahl Dresdner Bürger befolgt worden: 17 000 Menschen haben unter dem Läuten der Glocken aller Kirchen einen Ring gebildet, der sogar über zwei Elbbrücken reicht. Die Dresdner hätten sich "in eindrucksvoller Weise die Stadt zurückerobert", sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière.

Andererseits ist eben diese Stadt einen Kilometer südlich großräumig für die Rechtsextremen freigeräumt worden, die vor dem großen Aufmarsch am nächsten Samstag zu einem Fackelmarsch mobilisierten. Stunden vorab ist die Marschroute zwischen Hauptbahnhof und Technischer Universität mit Metallgittern hermetisch abgeriegelt; Passanten und selbst Journalisten werden von der Polizei, die ein enormes Arsenal an Wasserwerfern und Räumpanzern aufgefahren hat, strikt zurückgewiesen. Am Nürnberger Platz harrten Hunderte Gegendemonstranten aus und veranstalteten ein spontanes Blockadetraining; ob man sie dort belassen würde, wenn die Rechtsextremen vorbeiziehen, war unklar.

Schon seit Tagen hatten Stadt und Polizei angekündigt, Nazis und Gegendemonstranten zu trennen; letzter Auslöser dafür war ein Urteil des Verwaltungsgerichts, das nach der erfolgreichen, aber als rechtswidrig eingestuften Blockade des Naziaufmarschs 2010 der Polizei vorgeworfen hatte, diese Lage "sehenden Auges" in Kauf genommen zu haben, weil beide Seiten nicht getrennt wurden. Gestern wurde jeglicher Protest außer der Menschenkette auf die Neustädter Seite jenseits der Elbe verbannt. Kontrollen schon an Autobahnabfahrten sollten das durchsetzen.

Betroffen war auch ein "Mahngang", den das Bündnis "Dresden nazifrei" durchführen wollte und der zu Orten führen sollte, an denen NS-Täter gewirkt haben. So wolle man einen "Kontrapunkt zur von der Stadt zelebrierten Gedenkkultur" setzen, hieß es. Doch die Aktion wurde nicht zugelassen, und eine spontane Protestkundgebung, zu der sich 300 Menschen in Sichtweite der früheren Villa von NS-Gauleiter Martin Mutschmann einfanden, wurde ebenfalls verboten. "Beschämend" nannte das Albrecht Schröter (SPD), der OB von Jena, wo man Nazis vor einigen Jahren erfolgreich vergrault hatte. Protest in Ruf- und Hörweite - oder "Spuckweite", wie es ein Redner formulierte - "muss möglich sein", sagt der Thüringer Rathauschef und fügt hinzu: "In Jena wäre das nicht passiert."

* Aus: Neues Deutschland, 14. Februar 2011

3.500 Menschen auf verbotenen Blockaden und Protestaktionen gegen Naziaufmarsch in Dresden

Sonntag, den 13. Februar 2011

19.15 Uhr: Über 3.500 Menschen haben es trotz des Verbots auf die Altstadtseite geschafft und ihren Protest in Sicht- und Hörweite der Nazis gebracht. Blockaden und Kundgebungen haben die Nazis erheblich gestört. Die massive Kontrolle der Polizei konnte uns nicht davon abhalten, uns den Nazis entgegen zu stellen. Auch den verbotenen Mahngang auf den Spuren der NS-Täter konnte die Polizei nicht ganz verhindern, 250 Menschen folgten unserem Aufruf.

Ca. 2500 Menschen, die zuvor an der Menschenkette teilgenommen hatten, versammelten sich auf dem Wiener Platz, um sich gemeinsam mit dem Bündnis -Dresden-Nazifrei- gegen die Nazis Gehör zu verschaffen. Auf der geplanten Naziroute am Fritz-Löffler-Platz harrten seit den Morgenstunden mehrere Hundert Menschen aus. Im Laufe des Tages versammelten sich dort rund 2000 Menschen. Auf Grund der Blockaden und des Chaos in der Stadt wurden die Nazis immer wieder daran gehindert zu ihrem Demotreffpunkt zu gelangen und mussten dort in der Kälte rum stehen, bis sie losgehen konnten. Durch das Durchhaltevermögen der BlockiererInnen konnte der Aufmarsch nicht die geplante Route gehen - er musste um die Hälfte verkürzt werden und wurde stellenweise von lautstarken Protesten aus Häusern und Straßen begleitet. Am Endpunkt der Nazidemo am HBF erwarteten rund 1000 Menschen die Nazis mit Sprechchören. Die Nazis konnten auch deutlich weniger Teilnehmer als erwartet mobilisieren - ihre erhoffte Signalwirkung für den 19. Februar ist verpufft.

Wir sind fest entschlossen, die alljährliche Geschichtsfälscherei durch die Neonazis endgültig zu beenden und werden die Nazis am kommenden Wochenende keinen Meter laufen lassen!

** Von der Website "Dresden nazifrei", 13. Februar 2011; www.dresden-nazifrei.com/



Dresden wehrt sich

Von Lothar Bassermann, Dresden ***

Rund 6000 Polizisten waren am Sonntag nachmittag (13. Feb.) aufgeboten worden, um einigen hundert Neonazis einen »Gedenkmarsch« für die Opfer des alliierten Bombenangriffs vor 66 Jahren durch die Dresdener Innenstadt zu ermöglichen. Immer wieder gelang es Gegendemonstranten, trotz polizeilichen Verbots auf die Route der Neonazis zu gelangen. Allerdings beendeten Beamte solche Versuche immer wieder äußerst rabiat. Zuvor hatte es am Hauptbahnhof, dem Treffpunkt der Neonazis, eine Blockade durch rund 1000 Antifaschisten gegeben. Die Polizei ließ Wasserwerfer und Räumpanzer auffahren, die bis jW-Redaktionsschluß allerdings nicht eingesetzt wurden. Später gab es dort eine spontane Kundgebung mit mindestens 2000 Teilnehmern. Erst am Sonnabend hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß das vom Ordnungsamt verfügte und von allen Verwaltungsgerichtsinstanzen bestätigte Verbot von antifaschistischen Protestveranstaltungen in der Innenstadt rechtens sei. Die Behörden wollten damit offenbar eine Wiederholung der Ereignisse vom vergangenen Jahr verhindern, als es 10000 Antifaschisten gelang, einen Neonaziaufmarsch bereits am Versammlungsort so zu blockieren, daß die Polizei ihn schließlich auflösen mußte.

Am Sonntag wurde immer wieder deutlich, daß sich viele Demonstranten durch das Verbot nicht einschüchtern lassen wollten. Als besonders effektiv erwiesen sich Versuche von unauffällig gekleideten Menschen, in kleinen Gruppen in die Innenstadt einzusickern. Spontane Kundgebungen gab es unter anderem am Comeniusplatz, wo ursprünglich ein von der Kommune verbotener antifaschistischer Stadtrundgang mit dem Titel »Täterspuren« stattfinden sollte. Dieser war vom Bündnis »Dresden nazifrei« gemeinsam mit Kulturschaffenden und Künstlern geplant worden.

»Unser Ziel ist klar: Die Naziaufmärsche in Dresden müssen aufhören«, erklärte Franziska Radtke, Sprecherin des Bündnisses »Dresden nazifrei« am Mittag. »Da kann die Polizei sich auf den Kopf stellen – wir werden weitermachen, bis damit endlich Schluß ist.« Radtke begrüßte in diesem Zusammenhang die Entschlossenheit der Protestierenden, die sich von der »repressiven Polizeitaktik« nicht abschrecken ließen. »Ganz besonders freuen wir uns darüber, daß sich nach der Menschenkette Hunderte Menschen unserem Aufruf angeschlossen haben. Die reibungslose Durchsetzung des Naziaufmarschs kann die Polizei jetzt vergessen.«

An der Menschenkette in der Altstadt hatten sich nach Veranstalterangaben bis zu 17000 Menschen beteiligt. Aufgerufen hatten alle im sächsischen Landtag vertretenen Parteien – außer der NPD natürlich– und viele Verbände und Organisationen. Auf einer Kundgebung wandten sich Redner gegen die Instrumentalisierung der Erinnerung an die Opfer des Bombenangriffs durch Neonazis. Ob der »Gedenkmarsch« wie geplant durchgeführt werden konnte, war bei Redak­tionsschluß noch nicht absehbar.

Die antifaschistischen Gruppen richten ihren Blick bereits auf den kommenden Sonnabend. Dann wollen Neonazis aus ganz Europa in der sächsischen Metropole einfallen. Viele Organisationen haben ihre Entschlossenheit bekundet, diese Provokation mit allen Mitteln verhindern zu wollen.

*** Aus: junge Welt, 14. Februar 2011


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