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Maximale Abschreckung

Dresdner Staatsanwaltschaft will höhere Strafe für Tim H.

Von Sarah Liebigt *

Die Staatsanwaltschaft Dresden hat im Fall des Blockade-Urteils gegen den Berliner Antifaschisten Tim H. Berufung eingelegt. »Das Strafmaß wird dem Unrechtsgehalt der Tat und der Persönlichkeit des Angeklagten nicht gerecht«, heißt es nach Informationen des »nd« in einem Schreiben der Ermittlungsbehörde. Die Staatsanwaltschaft bleibe mit der Berufung »ihrer bekannten Linie treu« und setze »auf maximale Abschreckung«, kommentierte der Anwalt von Tim H., Sven Richwin, die Entscheidung gegenüber »nd«.

Der 36-Jährige Tim H. war am vergangenen Mittwoch vom Amtsgericht Dresden unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs zu einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt worden. Der Richterspruch hatte bundesweit Empörung hervorgerufen. Tim H. war einer von vielen tausend Menschen, die im Februar 2011 auch mit Blockaden gegen Europas größten Naziaufmarsch in der sächsischen Landeshauptstadt protestierten. Angeblich soll er dabei mit dem Ruf »Kommt nach vorne« übers Megafon zum Durchbrechen einer Polizeisperre aufgerufen und die Aktion koordiniert haben.

Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich eine Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten gefordert. Im Prozess konnte sie jedoch keinerlei stichhaltige Beweise präsentieren, ein Augenzeuge konnte den Angeklagten nicht als Schuldigen identifizieren. Einzig zutreffendes Indiz war eine Beschreibung anhand des Videomaterials: »Der Mann war groß.« Im Fadenkreuz der Staatsanwaltschaft stehen drei Symbolfiguren des Protests: Angeklagt wurde neben dem »Mann am Megafon« noch »der Mann mit dem Lautsprecherwagen«: Der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König soll ebenfalls Menschen angestachelt haben, sein Prozess soll in den nächsten Monaten beginnen. Außerdem angeklagt ist »der Mann mit der Flagge«: Markus Tervooren von der Berliner VVN/BdA, ihm wird ebenfalls schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Januar 2013


Dresdner Exempel

Von Wolfgang Hübner **

Dass Neonazis am Jahrestag der Dresdner Bombennacht seit drei Jahren praktisch nicht mehr marschieren und Geschichtsfälschungen verbreiten können, wird als Sieg der Zivilgesellschaft gefeiert. Teile der sächsischen Justiz sehen das offenbar anders. Die Dresdner Staatsanwaltschaft und manche Richter ermitteln und prozessieren inbrünstig gegen Leute, die sich den Nazis in den Weg stellen. Mit bemerkenswerter Verfolgungswut versucht man beispielsweise, Abgeordnete von Linkspartei und Grünen als Blockade-Rädelsführer zu belangen. Eine Hartnäckigkeit, die den SPD-Politiker Wolfgang Thierse von sächsischen Verhältnissen sprechen ließ.

Kürzlich wurde Tim H., ein antifaschistischer Demonstrant des Jahres 2011, in Dresden zu 22 Monaten Haft verurteilt; ohne Bewährung, ohne Beweise. Das Urteil ist empörend und lässt den Gedanken an Willkür aufkommen - die Dresdner Staatsanwaltschaft aber will den Angeklagten noch länger einbuchten. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass kurz vor den Antinazi-Protesten 2013 ein Exempel der Härte statuiert werden soll. An einem Nazigegner.

Übrigens: An dem Tag, an dem Tim H. wegen des vermeintlichen Rufens von Losungen wie »Kommt nach vorne!« zu Haft verurteilt wurde, standen in Dresden fünf Neonazis wegen schwerer Körperperletzung, Sachbeschädigung und Bildung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht und kamen mit Bewährungs- und Geldstrafen davon. So sehen sie aus, die sächsischen Verhältnisse.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Januar 2013 (Kommentar)


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