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Jeder zehnte will einen Führer

Studie warnt vor massivem Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland

Von Ulla Jelpke *

Einen erschreckenden Anstieg von rechtsextremen Einstellungen insbesondere in Ostdeutschland macht die zu Wochenbeginn vorgestellte Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung »Die Mitte im Umbruch – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012« [externer Link, pdf] aus. Für die seit 2006 im Turnus von zwei Jahren stattfindende Untersuchung wurden 2415 deutsche Staatsangehörige sowie 95 Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft befragt.

Während demnach der Anteil von Menschen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild im Bundesschnitt innerhalb der letzten zehn Jahre von 9,7 auf neun Prozent und in Westdeutschland von 11,3 auf 7,3 Prozent sank, verdoppelte sich dieser Anteil seit 2001 in den neuen Bundesländern von 8,1 auf heute 15,8 Prozent nahezu. Knapp 40 Prozent der Befragten bundesweit wünschen sich ein starkes Nationalbewußtsein, ein Drittel fordert ein hartes Auftreten Deutschlands gegenüber »dem Ausland«. Jeder zehnte wünscht sich einen »Führer«, der Deutschland »zum Wohle aller mit starker Hand regiert«. »Die völkische Begründung einer Diktatur, die Fiktion eines Volkes als Schicksalsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Interesse, das von einer Partei verfolgt wird, findet Zustimmung bei jedem sechsten Deutschen«, heißt es in der Studie.

39 Prozent der Ostdeutschen und 22 Prozent der Westdeutschen – im Bundesschnitt 25,1 Prozent – sind der Studie zufolge ausländerfeindlich. Nur rund ein Drittel der Befragten in Ost und West lehnt die Aussage, »die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen« komplett ab. 37,2 Prozent aller Befragten sehen die Bundesrepublik »durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet«, weitere 27,2 Prozent stimmen dieser Aussage teilweise zu. Fast 60 Prozent der Befragten stimmen islamfeindlichen Aussagen zu. »Insbesondere Ausländerfeindlichkeit ist somit tief in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs verwoben, von einer toleranten Mehrheitsgesellschaft sind wir noch weit entfernt«, warnen die Autoren der Studie.

Einen Anstieg rechtsextremer Einstellungen machen die Wissenschaftler dabei insbesondere unter jungen Ostdeutschen zwischen 14 und 30 Jahren aus, die erstmals höhere Zustimmungswerte bei der Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur oder der Verharmlosung des Nazi-Faschismus zeigten, als die Altersgruppe der über 60jährigen. Die Forscher warnen nun vor einer neuen »Generation des Rechtsextremismus« in Ostdeutschland. Dabei machen sie entgegen dem Zeitgeist nicht den »verordneten Antifaschismus der DDR« oder gar kollektives Töpfchensitzen in den Kitas vor 1990 für den Anstieg rechtsextremen Gedankenguts unter Ostdeutschen 22 Jahre nach der »Wende« verantwortlich, sondern sozioökonomische Hintergründe. Es handle sich um eine Folge wirtschaftlicher Abkoppelung ganzer Regionen sowie des Gefühls einer Generation, nicht gebraucht zu werden. Dies sei im Kern kein ostdeutsches Problem, vielmehr gebe es in den neuen Bundesländern besonders viele »abwärtsdriftende Regionen«. Angesichts der während der letzten zwei Jahrzehnte gegenüber den neuen Bundesländern betriebenen Politik des Ausverkaufs und der Deindustrialisierung mutet die am Dienstag von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) erhobene Forderung nach einer »bildungspolitischen Offensive in Sachen Demokratieerziehung« zur Bekämpfung rechtsextremen Gedankenguts in Ostdeutschland als unzureichendes Herumdoktern an den Symptomen an. Rechtsextremismus sei »ausdrücklich kein ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, das in allen gesellschaftlichen Schichten auftritt«, warnte unterdessen Martin Schirdewan vom Parteivorstand der Linken davor, die Brisanz des Themas zu unterschätzen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 14. November 2012

Politikempfehlungen: Ein Auszug aus der Studie

Rechtsextremismus aktiv bekämpfen

(S. 123/134)

Die dringlichste Aufgabe aller Mandats- und Entscheidungsträgerinnen und -träger, aber auch der Bürgerinnen und Bürger in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld ist, rechtsextremem Gedankengut und rechtsextremen Straftaten gegenüber eine klare Linie und Haltung einzunehmen.

Darüber hinaus muss die zivilgesellschaftliche Arbeit weiter gestärkt werden und endlich mehr Anerkennung finden. Denn die Bekämpfung rechter Gewalt durch den repressiven Staatsapparat ist zwar notwendig, ohne eine starke Zivilgesellschaft jedoch dauerhaft kaum erfolgreich. Staatliche Repression drängt zwar rechtsextrem motivierte politische Handlungen und Gewalt zurück. Aber gleichzeitig legitimiert sie repressive Maßnahmen als Instrumente der Politik. Die Identifikation mit repressiven Maßnahmen stärkt dann paradoxerweise genau das, wogegen sie sich richten: rechtsextreme und autoritäre Einstellungen, nicht aber die demokratische Auseinandersetzung.

Die Extremismusklauseln des Bundesinnenministeriums und einiger Bundesländer, flankiert durch entsprechende undifferenzierte Gleichstellungen von »links« und »rechts« sind das prominenteste Beispiel für behördliches Misstrauen, das vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen anstelle der notwendigen Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft entgegengebracht wird. Auch die Kriminalisierung von Initiativen, die in Bündnissen Neonazi-Aufmärsche zu verhindern versuchen, setzt falsche Zeichen. Ein weiteres Thema ist die Verantwortung, die den Medien als Träger demokratischer Öffentlichkeit zukommt. Diese Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen, ist leider nach wie vor nicht selbstverständlich. Die Eruption von Gewalt und Fremdenhass zu Beginn der 1990er-Jahre war auch ein Produkt der Art und Weise, wie berichtet wurde, und dieses Urteil schließt die sogenannten Qualitätsmedien mit ein. Auch die Berichterstattung rund um das Buch und die Thesen von Thilo Sarrazin im Jahr 2010 war wiederum von wenig Sensibilität gekennzeichnet, wie überhaupt beim Thema Rechtsextremismus häufig eine vereinfachende, undifferenzierte Berichterstattung zu beobachten ist.

Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler: DIE MITTE IM UMBRUCH. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Unter Mitarbeit von Benjamin Schilling und Peter Ullrich. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer, Verlag J.H.W. Dietz Nachf.: Bonn 2012, 142 S.; ISBN 978-3-8012-0429-7




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