Das Versprechen
Erich Kary, der letzte Jude aus dem ostpreußischen Angerburg, über die Hölle von Auschwitz
Als die Rote Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite, war für ERICH KARY der Albtraum noch lange nicht zu Ende. Seine »Rettung«, wie er sagt, erfolgte erst fast tausend Kilometer entfernt und in allerletzter Minute, am 2. Mai bei Ludwigslust. Mit dem Zeitzeugen, gelernten Handelskaufmann, sprach ELVIRA GROSSERT.
Wir dokumentieren im Folgenden das Interview, das im "Neuen Deutschland" erschien.
ND: Herr Kary, Sie sind ein Kind Ostpreußens ...
Kary: Ja, ich wurde 1924 in Angerburg geboren, wuchs mit meinem vier Jahre älteren Bruder Alfred in armen Verhältnissen auf. Alle Familien in unserem Haus waren arm. Den nichtjüdischen Nachbarn aber ging es nach 1933 besser; sie bekamen Arbeit und verhöhnten uns. Schon 1933 wurden die ersten Verordnungen zur Einschränkung der Rechte der Juden erlassen. Nun kamen auch einige Lehrer in SA-Uniformen in die Schule. Einer ließ mich vor die Klasse treten und erklärte: »Juden bekommen bei mir keinen Unterricht.« Dann prügelte er mit seinem Rohrstock auf mich ein. Die Mitschüler wurden aufgefordert, im Takt mitzuklatschen. Dann flog ich raus.
Hat Ihre Familie nicht an Auswanderung gedacht?
Doch. Mein Bruder Alfred hat die die Hachschara, die Vorbereitung auf die Alija, die Auswanderung, gemacht und ging 1938 nach Palästina. Mein Vater konnte im August 1939 dank einer Hilfsorganisation als Gärtner nach England gehen. Wir sollten nachkommen. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte dies. Meine Mutter und ich waren die letzten Juden in Angerburg.
Ich kam nach meinem 15. Geburtstag zwar im November 1939 auch zur Hachschara, auf das Gut in Winkel unweit von Berlin und dann nach Ahrensdorf. Neben der Ausbildung in Landwirtschaft und Gärtnerei gab es Sprachunterricht. Uns stand eine Bücherei zur Verfügung. 1941 aber wurde die Hachschara verboten. Wir wurden zur Zwangsarbeit nach Neuendorf gebracht. Wir mussten in den verschiedensten Betrieben in Fürstenwalde arbeiten, in einem Reifenwerk, einem Holzwerk und in der Friedhofsgärtnerei. Ich war zur Friedhofsgärtnerei eingeteilt.
Und Ihre Mutter war noch in Ostpreußen?
Nein. Sie hatte unser Haus verlassen müssen, wohnte einige Zeit bei Verwandten in Berlin und kam dann ebenfalls zur Zwangsarbeit nach Neuendorf. Eines Tages im April 1943 hieß es: »Ihr braucht nicht mehr zur Arbeit zu gehen!« Wir mussten nach Berlin in ein Sammellager. Das war in einem jüdischen Altersheim, in der Großen Hamburger Straße. Am 19. April wurden wir von hier nach Auschwitz deportiert.
Was war Ihr erster Eindruck?
Unvergessen ist mir die Selektion, unmittelbar nach der Ankunft. Ein SS-Arzt stand neben dem Waggon und entschied mit einer Daumenbewegung, ob man noch als Arbeitskraft taugte oder nicht. Die Alten, Kranken und Kinder wurden sofort in die Gaskammern geschickt. Meine Mutter war zierlich und klein. Und auch nicht gesund. Sie hat die Bahnfahrt nicht vertragen. Ich wollte bei ihr bleiben. Aber der SS-Mann befahl mir: »Da rüber!« Meine Mutter musste den anderen Weg gehen. Ich sah sie nie wieder.
War Ihnen bei der Ankunft bewusst, was Sie erwartete?
Bei der Abfahrt wussten wir noch nicht, wohin unsere »Reise« führt. Vielleicht nach Osten, um dort irgendwo zu arbeiten. Als wir aber in Auschwitz ankamen, wurde uns klar: Das ist das Ende! Man trieb uns mit Knüppeln aus dem Waggon. Mutter und ich haben uns angeschaut, schweigend. Diese letzten Blicke werden ich nicht los. Von diesen Erinnerungen gibt es keine Befreiung.
Und Sie mussten nun in Auschwitz Sklavenarbeit leisten?
Ja, ich kam nach Auschwitz III Monowitz. Dort errichtete die SS mit der IG Farben ein Außenlager. Ich hatte Glück im Unglück, wurde zum Materiallager eingeteilt. Die Arbeit dort war nicht so schwer. Andere mussten Zement aus Waggons ausladen. Sie wurden brutal angetrieben, sie schwitzten. Und der Zement fraß sich in die Poren. Das hat man keine Woche durchgestanden, dann war man kaputt. Und wenn man dann in den Krankenbau kam, war man verloren.
Die Befreiung erlebten Sie nicht in Auschwitz?
Nein, am 18. Januar 1945 begann die Evakuierung von Auschwitz. Bereits während des Fußmarsches nach Gleiwitz klappten viele Häftlinge zusammen und wurden auf der Stelle von der SS erschossen. In Gleiwitz steckte man uns in offene Güterwaggons. Sieben Tage waren wir unterwegs. Ohne Verpflegung. Zuerst fuhren wir nach Österreich, nach Mauthausen. Als wir dort ankamen, war das Lager überfüllt. Es ging weiter nach Mittelbau-Dora bei Nordhausen. Wir waren völlig erschöpft. Hunger und Kälte plagten uns. Zwei Drittel sind nicht lebend angekommen. In meinem Waggon überlebten von hundert Häftlingen nur zwölf den viehischen Transport. Die Toten hatte man nachts, während der Halts in kleinen Bahnhöfen, ausgeladen. Massengräber konnte man keine anlegen, weil der Boden gefroren war.
Wir waren so schwach, dass wir die meiste Zeit geschlafen haben. Und wenn wir aufwachten, mussten wir feststellen, dass wieder einige neben uns für immer eingeschlafen sind. Einer der Häftlinge in unserem Waggon sagte: »Wer dies überlebt, hat die Pflicht, der Nachwelt zu berichten, was wir erlebt haben.« Alle stimmten zu.
Was erwartete Sie in Mittelbau-Dora?
Dort befand sich die unterirdische V-Waffen-Produktion. Wir arbeiteten zwölf Stunden unter Tage; es gab zwei Schichten. Im Lager wimmelte es von Läusen. Die Verpflegung war noch schlechter als in den Lagern zuvor. Im April 1945 wurden wir noch einmal aufgescheucht. Die westlichen Alliierten rückten heran. Zuerst transportierte man uns wieder per Güterzug. Der blieb dann stehen. Man trieb uns nun zu Fuß durch den Harz. Wir wurden von bewaffneten Jugendlichen, höchstens 16 oder 17 Jahre alt, und ein paar betagten Männern bewacht. Es ist mir noch heute unverständlich, welche Freude es diesen Minderjährigen bereitete, uns anzutreiben und die Zusammenbrechenden zu erschießen.
So tief saß die NS-Ideologie. Wohin hat dieses letzte Aufgebot Hitlers Sie noch getrieben?
Nach Ravensbrück. Und dann in das Außenlager des KZ Neuengamme in Wöbbelin. Am 1. Mai wurden die Häftlinge, die noch in der Lage waren zu gehen, wieder in Waggons getrieben. Aber der Zug fuhr nicht mehr ab. Am folgenden Tag öffneten sich die Waggontüren. Man jagte uns zurück ins Lager. Zwischen den Baracken lagen nun noch mehr Tote. Dann suchte die SS Deutsch sprechende Häftlinge und forderte diese zum Mitkommen auf. Sie sollten das Gepäck der sich aus dem Staube machenden SS-Leute tragen. Die sind regelrecht getürmt. Das Lager wurde nun von Kapos, deutschen Häftlingen mit grünen Winkeln, also Kriminellen, übernommen. Sie hatten zwar Waffen, aber keine Munition. Und so hängten einige beherzte Männer das primitive Lagertor einfach aus. Wir waren frei!
Und alle strömten hinaus?
Nicht alle. Wir waren vier Freunde, kannten uns seit Auschwitz. Einer von uns kämpfte mit dem Tod. Wir wollten ihn nicht im Lager sterben lassen. Die U.S. Army erreichte Wöbbelin einige Stunden später und konnte uns auch noch nicht alle gleich versorgen. Inzwischen kam ein ungarischer Häftling mit einem Militärmotorrad aus Ludwigslust zurück und berichtete, dass es dort ein Krankenhaus gibt. Wir beschlossen, unseren sterbenskranken Kameraden dorthin zu bringen. Die Straße war verstopft, durch Wehrmachtsfahrzeuge und Flüchtlinge. Wir schleppten unseren Kameraden mühevoll, wir waren alle entkräftet. Als wir angelangt waren, wollte man ihn im Krankenhaus nicht aufnehmen. Wir mussten erst Krach schlagen. Überlebt hat er leider dennoch nicht. Aber wir haben für ihn getan, was möglich war und ihn nicht elendig verrecken lassen. Das ist mir auch heute noch wichtig.
Ihre Erlebnisse vermitteln Sie heute Schülern.
Ja. Lange habe ich geschwiegen. Nachts sah ich immer wieder diese furchtbaren Bilder. Später haben Arbeitskollegen mich bekniet: »Erzähle doch mal ...« Langsam habe ich mich geöffnet. Und schließlich gab es ja dieses Versprechen, das wir uns damals im Waggon gaben: »Wer überlebt, der berichtet.« Es ist eine Verpflichtung.
* Aus: Neues Deutschland, 27. Januar 2011
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