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Rassismus: das beste Rekrutierungsargument für Terroristen / Terror's Greatest Recruitment Tool. by Naomi Klein

Das Problem in Großbritannien ist nicht zuviel Multikulti, sondern zuwenig

Von Naomi Klein*

Hussein Osman ist einer der Männer, denen vorgeworfen wird, an den gescheiterten Bombenanschlägen vom 21. Juli in London beteiligt gewesen zu sein. Laut der Zeitung La Republica soll er den italienischen Ermittlern gesagt haben, man hätte sich durch “Filme über den Irakkrieg” für die Anschläge präpariert. “(Es waren) vor allem solche, in denen Frauen und Kinder von britischen und amerikanischen Soldaten getötet und ausgelöscht wurden... mit weinenden Witwen, Müttern und Töchtern”. Dabei gilt doch der Glaubenssatz: Der politisch korrekte Antirassismus hat Großbritannien terroranfällig gemacht. Sollten obige Aussagen von Hussein Osman zutreffen, läge ein anderes Motiv für die Terrorakte gegen England allerdings näher: Wut - Wut auf etwas, das als extremer Rassismus empfunden wird. Oder wie soll man das nennen, wenn Leute glauben, das Leben von Amerikanern und Briten sei mehr wert als das von Arabern und Muslimen (so dass man die getöteten Muslime und Araber im Irak erst gar nicht zählt)? Ein Glaube, der so weitverbreitet ist, dass er uns kaum noch auffällt.

Nicht das erstemal, dass extreme Ungleichheit Extremismus erzeugt. Der Mann, der als intellektueller Nestor des radikalen politischen Islam gilt, hieß Sayyid Qutb, ein ägyptischer Schriftsteller. Seine ideologische Epiphanias erlebte Qutb während eines Studienaufenthalts in den USA. Der puritanische Gelehrte mag schockiert gewesen sein über die Freizügigkeit der Frauen in Colorado, weit schwerer allerdings wog die Erfahrung mit der “üblen und fanatischen Rassendiskriminierung”, so schrieb er später. Es war Zufall, dass Qutb ausgerechnet 1948 nach Amerika kam - im Jahr der israelischen Staatsgründung. Er erlebte ein Amerika, das blind schien für Tausende von Palästinensern, die durch das Zionistische Projekt zu Dauerflüchtlingen wurden. Für Qutb ging es hier nicht um Politik - vielmehr um einen Angriff auf den Kern seiner Identität: Es war klar, den Amerikanern ist das Leben von Arabern weniger wert als das von europäischen Juden.

Laut Yvonne Haddad, Professorin für Geschichte an der Georgetown University, hat diese Erfahrung Qutb “verbittert, er konnte diese Bitterkeit nie mehr abstreifen”. Nach Ägypten zurückgekehrt, schloss er sich der Moslembruderschaft an - was zur nächsten lebensentscheidenden Erfahrung für ihn werden sollte: Qutb wurde verhaftet, schwer gefoltert und in einem Show-Prozess verurteilt - wegen Verschwörung gegen die Regierung.

Qutbs politische Theorie ist in hohem Maße geprägt von der Erfahrung der Folter. Qutb kam zu dem Schluss, seine Folterer seien subhumane Ungläubige - eine Schublade, in die er auch den Staat steckte, der diese Brutalität anordnete, eine Schublade, die schließlich auf alle muslimischen Zivilisten angewendet wurde, die dem Nasser-Regime ihre passive Zustimmung gaben.

Eine Riesenkategorie des Subhumanen. Sie erlaubte es Qutbs Anhängern, die Tötung von praktisch jedem als die eines “Ungläubigen” zu legitimieren - solange das Ganze im Namen des Islam geschah. Eine politische Bewegung für einen islamischen Staat wurde so zu einer Ideologie der Gewalt - und zur ideologischen Grundlage für die spätere Al Kaida. Man könnte sagen, der islamistische Terror ist ein westliches Erzeugnis - “home-grown” - lange vor den Anschlägen vom 7. Juli (in London). Die Quintessenz all dessen: Wir haben es mit den modernen Folgen des beiläufigen Rassismus von Colorado/USA und der Konzentrationslager von Kairo zu tun.

Aber warum das alles erneut ausgraben? Ganz einfach, weil heutzutage Benzin in die Doppelflamme der Qutb-Wut, die die Welt veränderte, gegossen wird: Der muslimische, der arabische Körper wird in Folterkammern erniedrigt - überall auf der Welt. Tote Muslime und Araber spielen in den simultanen Kolonialkriegen keine Rolle. Andererseits macht es der Computer jedem von uns leicht, sich die drastischen Beweise für die Erniedrigungen und Tötungen digital vor Augen zu führen. Um es noch einmal zu sagen: Es ist diese tödliche Mischung aus Rassismus und Folter, die in den Adern jener zornigen jungen Männern brennt. Qutbs Biografie ist eine ernste Mahnung an uns heute: Nicht Multikulti-Toleranz facht den Terror an, sondern Toleranz für jene Barbarei, die in unserem Namen begangen wird.

In dieses explosive Gemisch trat Tony Blair - entschlossen, die beiden Hauptursachen für den Terror als Kur auszugeben. Blair plant, noch mehr Leute an Staaten auszuliefern, in denen man sie wahrscheinlich foltern wird. Und er will weiter Kriege führen. Es sind Kriege, bei denen die Soldaten nicht einmal die Namen der Städte kennen, die sie dem Erdboden gleichmachen. (Ein kleines Beispiel: Der ‘Knight Rider’-Report vom 5. August zitiert einen Sergeanten der US-Marines, der versucht, seine Squad (Einheit) aufzuputschen: “Wir werden uns an diesen Tag erinnern, als den guten alten Tag, an dem ihr.... Tod und Zerstörung über - wie heißt der fucking Ort noch gleich? - brachtet”. Jemand kommt ihm zu Hilfe: “Haqlaniyah”.)

Auch in Großbritannien herrscht kein Mangel an jener “üblen und fanatischen Rassendiskriminierung”, die Qutb einst an Amerika kritisiert hat. “Natürlich kam es zu isolierten Akten von inakzeptablem rassistischem und religiösem Hass”, so Blair - bevor er seinen 12-Punkte-Plan zur Terrorbekämpfung vorstellte -, “aber es waren nur isolierte (Akte)”. Isoliert?

Allein bei der Islamic Human Rights Commisssion gingen nach den Bombenanschlägen von London 320 Beschwerden über rassistische Übergriffe ein. Die Monitoring Group, eine karitative Organisation, die sich um die Opfer rassistischer Gewalt kümmert, verzeichnete 83 Notrufe. Laut Scotland Yard ist die Zahl der hassmotivierten Verbrechen seit dem Vorjahreszeitraum um 600% gestiegen. Dabei war schon das Jahr 2004 kein Ruhmesblatt: “Jeder fünfte britische Wähler, der einer ethnischen Minderheit angehört, denkt aufgrund der rassistischen Intoleranz über eine Ausreise aus Großbritannien nach”, ergab eine Umfrage des Guardian im März 2004.

Diese Daten zeigen - Multikulturalismus Marke Großbritannien (oder Frankreich oder Deutschland oder Kanada...) hat mit echter Gleichheit wenig zu tun. Es ist der Pakt mit dem Teufel (Faustian bargain) - zwischen Politikern, die gewählt werden wollen und selbsternannten sogenannten ‘community leaders‘. Ethnische Minderheiten werden in entlegene, staatlich subventionierte Ghettos abgedrängt, und die Zentren des öffentlichen Lebens bleiben weitgehend unbehelligt von jenen seismographischen Verwerfungen, die sich in der ethnischen Landschaft vollziehen. Nichts belegt besser, wie oberflächlich diese angebliche Toleranz in Wirklichkeit ist, als die Hast, mit der jetzt Muslime, die angeblich nicht “britisch” genug sind, zum “Abhauen” aufgefordert werden (so der konservative Abgeordnete Gerald Howarth).

Das eigentliche Problem ist nicht zuviel Multikulti sondern zuwenig. Wäre es den unterschiedlichen Menschen, die heute am Rande der westlichen Gesellschaften gettoisiert leben (örtlich und psychologisch gettoisiert) wirklich erlaubt, in die Zentren zu ziehen, könnte dies das öffentliche Leben mit einem kraftvollen neuen Humanismus erfüllen. Profund multiethnische westliche Gesellschaften - anstatt dieses oberflächliche Multikulti - würden es Politikern längst nicht so leicht machen, ihre Unterschrift unter eine Abschiebungsverfügung zu setzen. Algerische Asylsuchende, zum Beispiel, werden in die Folter abgeschoben. Und es würde Politikern auch bei weitem nicht mehr so leicht fallen, Kriege zu führen, bei denen nur die toten Invasoren zählen. Und eine Gesellschaft, die Gleichheit als Wert und die Menschenrechte hochhält - im eigenen Land wie im Ausland - hätte noch einen Vorteil. Sie würde den Terroristen ihr wichtigste Rekrutierungsmittel aus der Hand nehmen: Rassismus.

Dieser Artikel wurde unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Andréa Schmidt erstellt. Erstabdruck einer Version dieses Artikels in "The Nation" (siehe unten)

Quelle: ZNet 19.08.2005; www.zmag.de



Terror's Greatest Recruitment Tool

by Naomi Klein*

Hussain Osman, one of the men alleged to have participated in London's failed bombings on July 21, recently told Italian investigators that they prepared for the attacks by watching "films on the war in Iraq," La Repubblica reported. "Especially those where women and children were being killed and exterminated by British and American soldiers...of widows, mothers and daughters that cry."

It has become an article of faith that Britain was vulnerable to terror because of its politically correct antiracism. Yet Osman's comments suggest that what propelled at least some of the bombers was rage at what they saw as extreme racism. And what else can we call the belief--so prevalent we barely notice it--that American and European lives are worth more than the lives of Arabs and Muslims, so much more that their deaths in Iraq are not even counted?

It's not the first time that this kind of raw inequality has bred extremism. Sayyid Qutb, the Egyptian writer generally viewed as the intellectual architect of radical political Islam, had his ideological epiphany while studying in the United States. The puritanical scholar was shocked by Colorado's licentious women, it's true, but more significant was Qutb's encounter with what he later described as America's "evil and fanatic racial discrimination." By coincidence, Qutb arrived in the United States in 1948, the year of the creation of the State of Israel. He witnessed an America blind to the thousands of Palestinians being made permanent refugees by the Zionist project. For Qutb, it wasn't politics, it was an assault on his identity: Clearly Americans believed that Arab lives were worth far less than those of European Jews. According to Yvonne Haddad, a professor of history at Georgetown University, this experience "left Qutb with a bitterness he was never able to shake."

When Qutb returned to Egypt he joined the Muslim Brotherhood, leading to his next life-changing event: He was arrested, severely tortured and convicted of antigovernment conspiracy in an absurd show trial. Qutb's political theory was profoundly shaped by torture. Not only did he regard his torturers as sub-human, he stretched that categorization to include the entire state that ordered this brutality, including the practicing Muslims who passively lent their support to Nasser's regime.

Qutb's vast category of subhumans allowed his disciples to justify the killing of "infidels"--now practically everyone--in the name of Islam. A movement for an Islamic state was transformed into a violent ideology that would lay the intellectual groundwork for Al Qaeda. In other words, so-called Islamist terrorism was "home grown" in the West long before the July 7 attacks--from its inception it was the quintessentially modern progeny of Colorado's casual racism and Cairo's concentration camps.

Why is it worth digging up this history now? Because the twin sparks that ignited Qutb's world-changing rage are currently being doused with gasoline: Arabs and Muslims are being debased in torture chambers around the world and their deaths are being discounted in simultaneous colonial wars, at the same time that graphic digital evidence of these losses and humiliations is available to anyone with a computer. And once again, this lethal cocktail of racism and torture is burning through the veins of angry young men. As Qutb's past and Osman's present reveal, it's not our tolerance for multiculturalism that fuels terrorism; it's our tolerance for the barbarism committed in our name.

Into this explosive environment has stepped Tony Blair, determined to sell two of the main causes of terror as its cure. He intends to deport more Muslims to countries where they will likely face torture. And he will keep fighting wars in which soldiers don't know the names of the towns they are leveling. (According to an August 5 Knight Ridder report, a Marine sergeant in Iraq recently pumped up his squad by telling them that "these will be the good old days, when you brought...death and destruction to--what the fuck is this place called?" Someone piped in helpfully, "Haqlaniyah.")

Meanwhile, in Britain, there is no shortage of the "evil and fanatic racial discrimination" that Qutb denounced. "Of course too there have been isolated and unacceptable acts of a racial or religious hatred," Blair said before unveiling his terror-fighting plan. "But they have been isolated." Isolated? The Islamic Human Rights Commission received 320 complaints of racist attacks in the wake of the bombings; the Monitoring Group has received eighty-three emergency calls; Scotland Yard says hate crimes are up 600 percent from this time last year. Not that pre-July 7 was anything to brag about: "One in five of Britain's ethnic minority voters say that they considered leaving Britain because of racial intolerance," according to a Guardian poll in March.

This last statistic shows that the brand of multiculturalism practiced in Britain (and France, Germany, Canada...) has little to do with genuine equality. It is instead a Faustian bargain, struck between vote-seeking politicians and self-appointed community leaders, one that keeps ethnic minorities tucked away in state-funded peripheral ghettos while the centers of public life remain largely unaffected by the seismic shifts in the national ethnic makeup. Nothing exposes the shallowness of this alleged tolerance more than the speed with which Muslim communities are now being told to "get out" (to quote Tory MP Gerald Howarth) in the name of core national values.

The real problem is not too much multiculturalism but too little. If the diversity now ghettoized on the margins of Western societies--geographically and psychologically--were truly allowed to migrate to the centers, it might infuse public life in the West with a powerful new humanism. If we had deeply multi-ethnic societies, rather than shallow multicultural ones, it would be much more difficult for politicians to sign deportation orders sending Algerian asylum-seekers to torture, or to wage wars in which only the invaders' dead are counted. A society that truly lived its values of equality and human rights, at home and abroad, would have another benefit too. It would rob terrorists of what has always been their greatest recruitment tool: our racism.

* "The Nation", posted August 11, 2005 (August 29, 2005 issue);
www.thenation.com



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