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Hessen übersieht Neonazis

Ermittlungsbehörden gingen Anzeige mit Verweisen auf rechtes Netzwerk in Gefängnissen nicht nach

Von Susan Bonath *

Pleiten, Pech und Pannen – oder haben sich Verfassungsschutz und Polizei bewußt »auf dem rechten Auge« blind gestellt? Diese Fragen beschäftigen nun auch die Landespolitik in Hessen, wie die Frankfurter Rundschau am Montag mitteilte. Hintergrund ist das Netzwerk inhaftierter Neonazis »AD Jail Crew«, das die hessischen Behörden kürzlich aufgedeckt hatten. Denn dies hätte offenbar schon viel früher geschehen können. So berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.) am Wochenende, daß den Verfassungsschützern im Oktober 2012 eine Anzeige des im Gefängnis sitzenden rechten Straftäters Bernd Tödter in den New Bikers »durch die Lappen gegangen« sei, obwohl sie das Motorrad-Magazin abonniert hatten.

In der Annonce habe Tödter offensiv für das Netzwerk geworben, das er aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hünfeld heraus aufgebaut haben soll. Sie habe »eindeutige Neonazi-Tarncodes« enthalten, wie einen Adler im Sturzflug, der die Zahl 14 hält. Diese Ziffer ist ein in rechten Kreisen bekannter codierter Begriff für eine Rassistenparole, die sogenannten »fourteen Words« des US-amerikanischen Neonazis David Lane. Zudem habe die Anzeige mit dem angeblichen Gründungsdatum der Gruppe, dem 20. April 2012, auf den Geburtstag Adolf Hitlers verwiesen. Nach Informationen der Frankfurter Rundschau wird die Biker-Zeitschrift von der Abteilung des Verfassungsschutzes ausgewertet, die der Bandenkriminalität aus dem Rockermilieu nachgeht. Dort fielen offenbar weder der Name des überregional bekannten Neonazis noch die Bezeichnung des Netzwerkes auf, so daß die zuständige »Abteilung für Rechtsextremismus« erst viel später über die Anzeige informiert wurde.

Für die Linken im hessischen Landtag ist das ein »Resultat kompletter Ignoranz im Innen- und Justizministerium des Landes«. Fraktionssprecher Thomas Klein sagte am Montag zu jW: »Was jetzt herausgekommen ist, ist genau das, was wir schon lange ahnten und das Gegenteil von dem, was uns die Landesregierung immer erzählte.« So habe FDP-Justizminister Jörg-Uwe Hahn auf eine große Anfrage vom vergangenen Sommer im November 2012 geantwortet, daß es keinerlei Informationen über neofaschistische Netzwerke in hessischen Gefängnissen gebe. Auch auf spätere Nachfragen hätten sich er und CDU-Innenminister Boris Rhein unwissend gezeigt. »Und das, obwohl uns bereits zahlreiche Hinweise vorlagen«, monierte Klein. Zudem sei der Name Bernd Tödter »Programm in Hessen«. »Er hat zum Beispiel in Kassel die militante Neonazivereinigung ›Sturm 18‹ (Anm. d. Red.: die Zahl steht für die Anfangsbuchstaben des Namens Adolf Hitler) mitgegründet und einen Obdachlosen zu Tode geprügelt.« Auch mehrere Zeitungsartikel hätten bereits Anfang 2013 auf eine mögliche »überregionale rechtsextreme Vernetzung in Justizvollzugsanstalten« hingewiesen. »Offensichtlich«, konstatierte Klein, »hat uns zumindest der Justizminister belogen«. Es könne nicht sein, »daß Neonazigrößen einsitzen und die Behörden von nichts eine Ahnung haben«.

Die Linksfraktion fordert nun einen Rücktritt beider Minister. »Das werden wir in einer für kommenden Montag anberaumten Sondersitzung des Innen- und Rechtsausschusses bekräftigen«, so Klein. Diese und weitere Sondertagungen sollen dazu dienen, die Vorgänge um das Netzwerk offenzulegen, erklärte Klein. So müsse etwa geklärt werden, wie es ein bekannter Neonazi überhaupt schaffen konnte, vom Gefängnis aus derart zu annoncieren und weshalb die Behörden davon nichts bemerkt haben wollen. Doch ebenso stehe die Frage zur Debatte, wer mit welchen Informationen an die Öffentlichkeit gehen durfte. Justizminister Hahn war vergangene Woche gegenüber Bild damit vorgeprescht, zum Mißfallen von Innenminister Rhein. Während Rheins Behörde für den Verfassungsschutz verantwortlich ist, untersteht Hahns Ministerium das Landeskriminalamt. Letzteres ermittelt im Auftrag der Staatsanwaltschaft gegen den inzwischen aus Hünfeld verlegten Tödter sowie gegen zwei weitere Häftlinge wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung

* Aus: junge Welt, 16. April 2013


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