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Dresdner Demokratie unter Verdacht

Die "Untersuchungskommission 19. Februar" deckt Verletzungen gegen die Versammlungsfreiheit auf *

Die Versammlungsfreiheit wurde und wird regelmäßig zum Jahrestag des Naziaufmarsches in Dresden verletzt. Die „Untersuchungskommission 19. Februar“ arbeitet die Vorgänge rund um die Demos und Blockaden des vergangenen 19. Februars vor dem Hintergrund grundrechtlicher Prinzipien auf. Auch die ver.di Jugend unterstützt als Bündnispartner die Arbeit der Kommission.

Seit Jahren wehrt sich eine aktive Bürgerschaft gegen den Aufmarsch Rechter um den 13. Februar in Dresden. Neonazis aus ganz Europa nutzen den Jahrestag des Bombardements auf Dresden zum Ende des Zweiten Weltkrieges, um ihre menschenverachtenden Ideologien zu verbreiten. Mit Sitzblockaden, Demonstrationen und zivilen Ungehorsam konnte Dresden-Nazifrei – ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Antifa-Gruppen, Parteien, Kirchen und Vereinen – die Neonazis erfolgreich die Stirn bieten.

Wie die vergangenen Jahren aber auch zeigten, kämpft das Bündnis nicht nur gegen rechtes Gedankengut im öffentlichen Raum, sondern auch gegen die repressive Politik des sächsischen Innen- und Justizministeriums. Diese kriminalisieren regelmäßig mit Einschüchterungsversuchen und unverhältnismäßig hartem Vorgehen die friedlichen Gegenproteste und verletzen somit die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit.

Vor diesem Hintergrund hat sich im vergangenen Oktober aus dem Bündnis die „Untersuchungskommission 19. Februar“ gegründet. Sie widmet sich der Aufgabe das Vorgehen der sächsischen Justiz- und Polizeiministerium im Zuge der friedlichen Demonstrationen und Sitzblockaden aufzuarbeiten und an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch ver.di Jugend beteiligt sich an den Aufarbeitungen. „Ich bin hier nicht nur in meiner Funktion als Bundesjugendsekretär der ver.di Jugend, sondern vor allem auch als empörter Bürger tätig“, so Ringo Bischoff, ver.di-Bundesjugendsekretär. In diesen Tagen schließt die Kommission ihre Arbeit mit einem Bericht an die Öffentlichkeit ab. Der Bericht wird die kommenden Tage hier eingestellt.

Die Arbeit der Untersuchungskommission setzt auch ein Zeichen über den umstrittenen 13. Februar hinaus. Die Pannen des deutschen Verfassungsschutzes mehren sich. So geben die mangelnde Aufarbeitung der Mordserie der Zwickauer Neonazi-Zelle und die geheimdienstlichen Überwachungen mehrerer Abgeordneter der Linken in Niedersachsen weiteren Anlass, die Aushöhlung staatsbürgerlicher Grundrechte in Deutschland aufzudecken.

* Quelle: ver.di Jugend, https://jugend.verdi.de/


Sachsens schwarzer Block

Von Markus Bernhardt **

Kurz vor den am 13. und 18. Februar in Dresden anstehenden antifaschistischen Protesten gegen Aufmärsche und Aktionen von Neonazis hat die »Untersuchungskommission 19. Februar« am Donnerstag ihren Bericht über den Umgang der sächsischen Behörden mit den Gegendemonstrationen im Vorjahr vorgestellt. In dem Gremium haben Politiker von Linkspartei, SPD, Grünen und Mitglieder des Komitees für Grundrechte und Demokratie zahlreiche Fakten über den Einsatz gegen Antifaschisten in Dresden zusammengetragen. Die Neonazigegner wollten zum zweiten Mal in Folge den jährlichen Großaufmarsch der Neonazis anläßlich des Jahrestages der Bombardierung der Stadt durch die Alliierten verhindern.

Gleich zu Beginn ihres Berichtes kommen die Verfasser zu dem Ergebnis, daß – entgegen den polizeilichen und regierungspolitischen Darstellungen – Dresden im Februar letzten Jahres »nicht von Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten« von Nazigegnern gekennzeichnet war. Vielmehr hätten sich die antifaschistischen Demonstrationen und Massenblockaden, die vom bundesweiten Bündnis »Nazifrei! Dresden stellt sich quer!« organisiert worden waren, dadurch ausgezeichnet, daß »Zehntausende Bürgerinnen und Bürger ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ›gewaltfrei und ohne Waffen‹ in ihre Hände« genommen hätten.

Harsche Kritik üben die Verfasser in dem insgesamt 65 Seiten starken Bericht an den sächsischen Behörden. Diese waren im vergangenen Jahr mit einem ansonsten nur aus Bürgerkriegsregionen bekannten Arsenal gegen friedliche Nazigegner vorgegangen. Neben Überwachungsdrohnen, massivem Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken, waren auch Wasserwerfer und Hunde eingesetzt worden. Darüber hinaus hatten die Behörden, die noch immer nach Paragraph 129 (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) gegen einzelne Unterstützer und vermeintliche Organisatoren der antifaschistischen Massenblockaden ermitteln, per Funkzellenabfrage millionenfach Handydaten protokollieren lassen und einzelne Gespräche direkt belauscht.

»Der Umgang der sächsischen Behörden mit dem Versammlungsrecht sowie die Kriminalisierung von zivilgesellschaftlichem Engagement zeugt von einem vordemokratischen Zustand in diesem Bundesland«, kritisierte Ringo Bischoff, Bundesjugendsekretär der ver.di-jugend, am Donnerstag in Berlin. Tatsächlich hatten Polizei, Justiz und etablierte Politik in Sachsen stets behauptet, daß friedliche Sitzblockaden gegen das Demonstrationsrecht verstoßen. Die Untersuchungskommission kommt hingegen zu dem Schluß, daß auch diese Form des Protestes den Schutz der Versammlungsfreiheit genießt.

Auch Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie schloß sich der Kritik an den »sächsischen Verhältnissen« an und betonte, daß »eine der vornehmsten demokratischen Praktiken im demonstrativen Handeln« bestehe. »Wer dieses gefährdet – wie es die sächsische Regierung und ›ihre‹ Polizei getan haben – gefährdet eine der ausschlaggebenden Grundlagen der Verfassung«, konstatierte der Bürgerrechtler.

Linkspartei-Chefin Gesine Lötzsch forderte am Donnerstag (2. Feb.) Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, »mit ihrem Kabinett in Dresden« dabei zu sein, »wenn es erneut darum geht Zivilcourage gegen Nazis zu zeigen«.

** Aus: junge Welt, 3. Februar 2012


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