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"Vom Zwang familiärer Autorität befreien"

Gegenüber Musliminnen in Deutschland sollten nicht die falschen Signale gegeben werden. Ein weiterer Beitrag zum "Kopftuchstreit"

Im Folgenden dokumentieren wir einen weiteren Beitrag zum "Kopftuchstreit". Er wurde in der kritischen Wochenzeitung "Freitag" veröffentlicht.


Von Sabine Kebir

Im Freitag vom 16. Januar (Ausgabe 4/2004) hatte Mohssen Massarrat die Debatte über das "Kopftuchurteil" des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 eröffnet. Er sah in der Absicht, "das Kopftuch verbieten zu wollen", alles andere als ein Zeichen "für den Reifegrad der Demokratie". Ein solches Vorgehen werde die Integration muslimischer Familien in Deutschland zurückwerfen. Im Freitag vom 13. Februar (Ausgabe 8/2004) antwortete ihm der Göttinger Sozialwissenschaftler Niels-Arne Münch: Schleier und Kopftuch seien "Instrumente eines patriarchalen Herrschaftsanspruchs" und als "sozial erzwungene Behinderung" einzustufen. Der Begriff "Integration" werde zur "Leerformel", unterbleibe die Frage nach "einer integrierenden Praxis". Münch sprach sich dafür aus, durch ein Kopftuchverbot an Schulen, das Entstehen einer muslimisch gefärbten "Parallelgesellschaft" in Deutschland zu verhindern. Darauf reagierte Mohssen Massarrat in seinem Text vom 20. Februar (Ausgabe 9/2004) mit dem Vorwurf, was Münch als Integration bezeichne, laufe auf Assimilation hinaus. Im Klartext werde von Einwanderern verlangt, "ihr Anderssein aufzugeben". Die Mehrheitskultur halte das "Verlangen nach Assimilation der Andersartigen" für moralisch legitim, weil sie von einer "Höherwertigkeit eigener Werte und Normen" ausgehe. Ein Kopftuchverbot - so der Autor - sei nicht nur grundgesetzwidrig, es widerspreche auch politischer Vernunft. Wir setzen die Debatte unter Einbeziehung einer Auswahl der vielen Reaktionen von Leserinnen und Lesern fort, die uns erreicht haben.

Die Frage nach der "Integrierbarkeit" des Kopftuchs von Musliminnen in "unsere" europäische Demokratie lässt sich nicht eindeutig beantworten. Das zeigt bereits die unterschiedliche Ausgangslage in Frankreich und Deutschland. Der französische Laizismus wird nicht ausgerechnet über die Kopftuch-Frage die Religion in seine Schulen zurückholen. In Deutschland, wo in den meisten Bundesländern christliche Religion Pflichtfach ist, erscheinen Kopftuch und islamischer Religionsunterricht als endlich einzulösende Minderheitenrechte.

Während in Frankreich oft eher nationalistisch auf dem Boden der laizistischen Tradition argumentiert wird, neigt man in Deutschland dazu, kommunitaristische Perspektiven anzusteuern, wie sie der Situation in den USA ähneln. Dabei mag der Hintergedanke eine Rolle spielen, dass diese communities den Sozialstaat entlasten.

Auf jeden Fall stellen einzelne Kopftuch tragende Lehrerinnen keine ernsthafte Gefahr für die Demokratie dar. Wer jedoch hierzulande für den ungehinderten Einzug des Kopftuchs in die Lehrerschaft plädiert, muss wissen, dass er damit auch die Präsenz des Religionsunterrichts als Pflichtfach für Jahrzehnte zementiert.

Noch komplizierter als die Frage nach der künftigen Rolle der Religionen in den Schulen ist die Beurteilung des Kopftuchphänomens an sich. Die in den achtziger Jahren beginnende Wiederverschleierung ist kein Ausdruck traditioneller islamischer Identität, sondern ein Zeichen des sich weltweit ausbreitenden Islamismus. Damit könnten wir leichter umgehen, würde es sich dabei um ein klar umrissenes, transparentes Phänomen handeln, wir haben es aber sowohl mit einem ins Mittelalter zurückführenden Zivilisationsmodell wie einem Märtyrertum für geraubte Souveränitätsrechte zu tun. Dementsprechend sind Positionen unüberlegt, die entweder jede Frau mit Kopftuch als potenzielle Extremistin betrachten - oder den Islamismus verharmlosen.

Das im Westen schwer zu fassende Phänomen besteht darin, dass Kopftuchträgerinnen bewusst oder unbewusst Fahnenträgerinnen des Islamismus sind, selbst aber keineswegs den Kern des Problems darstellen. Um diesen, den "männlichen" Kern hat - gerade auch die deutsche Politik - bis zum 11. September 2001 einen großen Bogen geschlagen. Der Islamismus inklusive der - militante Strukturen finanzierenden - arabischen Halbinsel war ein Verbündeter des Westens im Kampf um die Neoliberalisierung der Weltwirtschaft. Deshalb auch war Deutschland in den neunziger Jahren Ruheraum für Zehntausende Islamisten, darunter auch tatsächliche und potenzielle Terroristen. Offen diskutiert wurde bestenfalls über das Kopftuch.

Da sich inzwischen der Dschijad klar gegen den Westen orientiert hat, versucht man auch in Deutschland, lang Versäumtes durch hektische Betriebsamkeit aufzuholen. Die zum wiederholten Male aufgelegte Kopftuch-Debatte ist eher Ausdruck von anhaltender Verlegenheit in Sachen Islamismus. Wirklich gefährliche Gewalttäter wie die Aktivisten des 11. September 2001 werden identitär zuzuordnende Folklore vermeiden.

Da diese komplexen Hintergründe in der öffentlichen Debatte kaum entwirrt werden, sagt sich der deutsche Gutmensch zu Recht, dass unsere Restriktionen gegenüber dem Islamismus nicht bei den Frauen anfangen dürfen, doch sollte man es sich mit der Akzeptanz des Kopftuchs nicht zu einfach machen.

Ermutigung, unsere eigenen Zivilisationsperspektiven im Auge zu behalten, erfahren wir erfreulicherweise durch die höchste religiöse Autorität des sunnitischen Islam, Scheich Muhammad Sayyid Tantawi von der Kairoer Azhar-Universität. Er stellte Ende 2003 gegenüber dem französischen Außenminister klar, dass nichtmuslimische Länder ein absolutes Recht auf eine eigene Gesetzgebung hätten und dort lebende Musliminnen dazu verpflichtet seien, diese zu befolgen. Genauso müssten Nichtmuslime in muslimischen Ländern die dortigen Gesetze respektieren. Bedeutsam ist, dass Tantawi den im Westen lebenden Musliminnen riet, sich notfalls für ihre Ausbildung und gegen die Verschleierung zu entscheiden, ohne deren Bedeutung grundsätzlich in Frage zu stellen.

Obwohl Tantawi sogar ein Kopftuchverbot für Schülerinnen akzeptieren würde, halte ich in Deutschland die Gleichstellung des Islam mit Christentum und Judentum im öffentlichen Raum für die derzeit vordringliche Aufgabe - das heißt, in den Schulen müssen sowohl das Kopftuch für Schülerinnern als auch verfassungskonformer islamischer Religionsunterricht zulässig sein.

Aufschlussreich für uns ist auch das von Tantawi ebenfalls vertretene Ziel der beruflichen Emanzipation muslimischer Frauen, die einer Befreiung von familiärer Autorität vorangehen muss. Auch deshalb erscheint ein totales Kopftuchverbot für Schülerinnen problematisch. Kopftuch tragende Lehrerinnen hingegen würden die falschen Signale über die gesellschaftlich gewollte Perspektive aussenden, zu der wir uns den Muslimen gegenüber klar bekennen sollten: Es geht nicht nur um die berufliche, sondern auch um die sexuelle und familiäre Emanzipation der Frauen. Und zu der sollten sie - spätestens bei beruflicher Unabhängigkeit - auch das Recht haben in unserer Gesellschaft. Umfragen lassen ersehen, dass die Mehrheit der in Westeuropa lebenden Musliminnen das Kopftuch nicht tragen will, was einem Bekenntnis zur körperlichen Selbstbestimmung gleichkommt. Durch ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen würden wir demzufolge keineswegs eine muslimische Mehrheit brüskieren, sondern in ihrem Integrationswillen unterstützen. Ohnehin würden Kopftuch tragende Lehrerinnen besonders für die Muslime katastrophale Signale aussenden, die vor dem Islamismus in ihren Herkunftsländern geflohen sind, man denke nur an die Exiliraner.

Dass von Staatsbeamten bestimmte Persönlichkeitsmerkmale verlangt werden, ist kein genereller Ausdruck von Diskriminierung. Das Bekenntnis zum Grundgesetz erscheint zweifelhaft, wenn das mit dem Kopftuch in Verbindung stehende Menschenbild als mit dem Grundgesetz vereinbar gilt.

Sollte man sich zur Toleranz gegenüber dem Kopftuch für Schülerinnen entschließen, wäre jedoch eine Altersgrenze zu setzen: Kopftuch nicht unter zwölf Jahren. Auch dem Ansinnen, Mädchen vom Sportunterricht zu befreien, sollte auf keinen Fall entsprochen werden. Dies leistet jener physischen Immobilität Vorschub, die eine körperliche Selbstbestimmung heranwachsender Frauen in vielerlei Hinsicht einschränkt. Auch in den meisten islamischen Ländern gehört Sportunterricht für Mädchen zur Schulpflicht, obwohl die Islamisten immer wieder dagegen vorgehen.

Der deutsche Föderalismus bietet die Möglichkeit zu unterschiedlichen Lösungen, die durchaus als offene Experimente betrachtet werden sollten. So würde etwa in Brandenburg, wo es Religion als Pflichtfach nicht gibt, ein generelles Verbot religiöser Symbole in Schulen nach dem französischen Muster mehr Sinn ergeben als anderswo.

Aus: Freitag 11, 05. März 2004


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