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Ein Schritt zu viel

Position. Zur aktuellen Debatte um »Antisemitismus« in der Partei Die Linke

Von Knut Mellenthin *

Vom Strohhalm, der dem vollbepackten Kamel das Rückgrat brach, ist in einem arabischen Sprichwort die Rede. Die rechten Kräfte in der Partei Die Linke, die alles aus dem Weg zu diffamieren versuchen, was für eine Regierungsbeteiligung hinderlich sein könnte, haben ihrer Partei einen Strohhalm zu viel zugemutet. Damit wurde ein Sturm von veröffentlichten Protesten innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen ausgelöst. Die inhaltliche Auseinandersetzung, der sie ausweichen wollten, indem sie mißliebige Positionen ins Reich des »Antisemitismus und Rechtsextremismus« hinüberdefinierten, wird nun unumgänglich in der gesamten Partei geführt werden müssen.

Stein des Anstoßes ist ein Text, der am 7. Juni von der Bundestagsfraktion Die Linke verabschiedet wurde. Formal fiel die Entscheidung nach mehrstündiger, teilweise hitziger Diskussion einstimmig, weil die Gegner der Resolution – die Angaben über ihre Zahl variieren – es vorzogen, sich am Votum nicht zu beteiligen. Bei diesem Verhalten soll die angebliche Rücktrittsdrohung des Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi eine zentrale Rolle gespielt haben.

Der Beschluß hat folgenden Wortlaut:
»Die Abgeordneten der Fraktion Die Linke werden auch in Zukunft gegen jede Form von Antisemitismus in der Gesellschaft vorgehen. Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals einen Platz. Die Fraktion Die Linke tritt daher entschieden gegen antisemitisches Gedankengut und rechtsextremistische Handlungen auf. Die Mitglieder der Bundestagsfraktion erklären, bei all unserer Meinungsvielfalt und unter Hervorhebung des Beschlusses des Parteivorstandes gegen Antisemitismus vom 21. Mai 2011: Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahostkonflikt, die eine Ein-Staat-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer ›Gaza-Flottille‹ beteiligen. Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.«

Der letzte Satz bedeutet eine knallharte Kündigungsdrohung, wie die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Dagmar Enkelmann, schon eine Woche vorher dem Berliner Tagesspiegel (31.5.2011) anvertraut hatte: »Explizit will sie auch die Aktivitäten von Fraktionsmitarbeitern unter die Lupe nehmen. ›Wenn die Grundwerte der Partei und der Fraktion negiert werden, muß das Konsequenzen haben – bis zur Trennung.‹«

Keinerlei Argumente

Die am 7. Juni verabschiedete Resolution enthält zu den aufgezählten drei Punkten linker Nahostpolitik kein Wort der Begründung. Das wäre auch schwierig, da es dazu bisher keine in der Partei diskutierten und verbindlichen Positionierungen gibt. Lediglich zur Boykottkampagne ist eine knappe inhaltliche Aussage in der Erklärung des Parteivorstandes vom 21. Mai zu finden, die im Fraktionsbeschluß erwähnt wird. Diese Stellungnahme trägt übrigens keineswegs die Überschrift »Gegen Antisemitismus«, sondern »Linke weist Antisemitismusvorwürfe zurück«, was in der aktuellen Debatte einen riesigen Unterschied bedeutet. In der einstimmig verabschiedeten Erklärung heißt es, der Parteivorstand halte eine Boykottkampagne gegen israelische Waren in Deutschland »vor dem Hintergrund unserer spezifischen Geschichte für ein völlig ungeeignetes Mittel der Auseinandersetzung mit israelischer Regierungspolitik«.

Trotzdem wurde die Kampagne aber damals keineswegs als antisemitisch und rechtsextremistisch bezeichnet. Im Gegenteil folgten in der Stellungnahme des Parteivorstandes unmittelbar die Sätze: »Wir weisen zurück, wenn berechtigte Kritik an der Politik der israelischen Regierung in Antisemitismus umgedeutet wird. Ebenso weisen wir Vorwürfe eines angeblichen Vormarsches antisemitischer Positionen in der Linken zurück.«

Im Unterschied dazu hat die Parteiführung mit der am 7. Juni beschlossenen Fraktionsresolution offenbar ganz bewußt das mächtigste Geschütz eingesetzt, das überhaupt in Stellung zu bringen ist: den Antisemitismusvorwurf. Dadurch werden erhebliche, ernstzunehmende Teile der internationalen Friedensbewegung, einschließlich der israelischen, aufs schwerste diffamiert.

Wenn es lediglich um eine »freiwillige Selbstverpflichtung« der Abgeordneten im Stil vergangener Zeiten gegangen wäre, könnte man die Nichtbeteiligung an dieser Abstimmung als akzeptablen individuellen Ausweg respektieren. In dem Kontext der Resolution, ihrer Überschrift – »Entschieden gegen Antisemitismus« – und ihrer pseudoantifaschistischen Präambel kann dieses Verhalten aber nur mit der Note »ungenügend« bewertet werden. Einige Abgeordnete, so Annette Groth und Andrej Hunko, haben ihre Position nachträglich durch öffentliche Stellungnahmen geklärt.

An eine versehentliche Ungeschicklichkeit der Antragsteller bei der Konstruktion des Zusammenhangs zwischen Gaza-Hilfsflottille, Boykottbewegung und Ein-Staat-Diskussion einerseits, »Antisemitismus und Rechtsextremismus« andererseits wird hoffentlich niemand glauben? Falls doch: An der Spitze des Unternehmens stand mit Gregor Gysi ein erfahrener Anwalt und Politiker. Man kann ihm manches vorwerfen und zutrauen, aber ganz gewiß nicht fehlenden Blick für kontextuelle Zusammenhänge oder gar Artikulationsprobleme.

Einer, der trotzdem so tut, als hätte er gar nicht verstanden, was man gerade beschlossen hat, ist ausgerechnet der Abgeordnete Stefan Liebich, einer der Wortführer der Parteirechten. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland (11.6.2011) antwortete Liebich auf die Frage, ob er die Unterstützung der Gaza-Flottille für antisemitisch halte: »Nein. Ob es auch Antisemiten auf den Schiffen gab, will ich nicht beurteilen. Den Vorwurf, daß Bundestagsabgeordnete der Linken Antisemiten seien, habe ich immer zurückgewiesen, denn wenn das stimmte, müßte ich ihren Ausschluß fordern.« Und etwas später: »Ich sage nicht, daß man den Schiffskonvoi nicht für richtig halten kann. Aber es gibt auch andere Mittel.« Welt online hatte Liebich allerdings am 8. Juni noch mit der Aussage zitiert, es mache ihm »absolute Freude«, daß sich die Partei endlich klar gegen Antisemitismus positioniert habe.

Nun scheint auch Gregor Gysi angesichts des von ihm selbst mitverschuldeten Schlamassels nicht ganz glücklich zu sein. In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dapd (13.6.2011) verwahrt er sich gegen die imaginäre – von niemandem explizit formulierte – Behauptung, wer Israel kritisiere, sei antisemitisch. Mit dieser Unterstellung geschehe »grobes Unrecht«. Mit Blick auf die Linke sprach der Fraktionschef plötzlich nur noch von der einen oder anderen deplazierten Äußerung, die aber »gar nicht antisemitisch gemeint« gewesen sei.

Selbstverständlich ist mit dem Fraktionsbeschluß vom 7. Juni das Theater um die »Antisemiten in der Linke« nicht beendet, sondern wird jetzt erst richtig losgehen. Nachdem die Fraktion, ob nun bewußt oder aus panischer Feigheit, Hilfsflottille, Boykott und Ein-Staat-Diskussion als antisemitisch und rechtsextremistisch gebrandmarkt hat, wird die Führung der Linken künftig permanent mit Fragen der Mainstreammedien und der konkurrierenden Parteien bombardiert werden, wann sie endlich »konsequent« gegen Mitglieder vorgeht, die immer noch aus der Reihe tanzen. Der schon seit einigen Jahren strapazierte Vorwurf, die Partei distanziere sich nur aus taktischen Gründen, dulde aber in Wirklichkeit Antisemitismus in ihren eigenen Reihen, kann sich künftig auf den Fraktionsbeschluß berufen. Das einzige noch halbwegs taugliche Notmittel wäre, die Resolution als total mißglückt aufzuheben, ihre praktischen Inhalte vernünftig zu diskutieren – im Kontext linker Nahostpolitik und nicht im Antisemitismuszusammenhang –, und anschließend über eine völlig neue Vorlage abzustimmen, falls das dann noch für notwendig gehalten würde.

Viel heiße Luft

Was hat den rasanten Kurswechsel der Linken-Führung zwischen der vergleichsweise ausgewogenen Erklärung des Parteivorstandes vom 21. Mai und dem katastrophal dummen, mit nichts zu verteidigenden Fraktionsbeschluß vom 7. Juni bewirkt? Es scheint, daß hauptsächlich das als »Aktuelle Stunde des Bundestages« inszenierte Tribunal der etablierten Parteien gegen die Linke am 25. Mai bei den zentristischen Kräften, denen wohl auch Gregor Gysi zuzurechnen ist, die panische Vorstellung produzierte, man müsse unbedingt ganz schnell einen Befreiungsschlag landen, indem man einfach der von allen anderen Parteien erhobenen Forderung nachkam, die Linke solle sich endlich von den »Antisemiten« in ihren eigenen Reihen abgrenzen. Gleichzeitig waren die prozionistischen Kräfte in der Partei um den Bundesarbeitskreis (BAK) Shalom der Linksjugend, Petra Pau, Bodo Ramelow, Halina Wawzyniak und andere offenbar der Meinung, daß die günstigste Stunde für eine Entscheidungsschlacht gekommen sei.

Das Allparteientribunal vom 25. Mai gehört unter den zahlreichen Beispielen einer Instrumentalisierung der deutschen Verbrechen an den Juden für kleinkarierte, selbstsüchtige Zwecke zu den ekelhaftesten. Es ist schade, daß der Zentralrat der Juden in Deutschland darauf verzichtete, sich von diesem selbstgefälligen, scheinheiligen Theater deutscher Dummschwätzer und Schaumschläger mit einem klaren »Nicht in unserem Namen!« zu distanzieren.

Was hatte den etablierten Parteien Anlaß geboten, gegen die Linke eine »Aktuelle Stunde« anzusetzen, als sei plötzlich der nationale Notstand ausgebrochen? Der offizielle Titel des Tribunals lautete: Debatte über »Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei Die Linke«. Schon die Pluralform »Untersuchungen« war eine platte Lüge, die Substanz suggerieren sollte, wo sie einfach nicht vorhanden war. Tatsächlich ging es nur um ein einziges Papier, das hochtrabend als »wissenschaftliche Studie« bezeichnet und schlagartig in sämtlichen Mainstreammedien zum Heißluftballon aufgeblasen worden war.

Selbst bei der heute erreichten Gleichschaltung der Medien und der Absenkung journalistischer Standards ist schwer vorstellbar, daß man mit ähnlicher Einstimmigkeit und absoluter Kritiklosigkeit eine »wissenschaftliche Studie« bekennender Atomkraftfanatiker hochjubeln würde, in der gegen den Ausstieg aus der Nuklear­energienutzung polemisiert wird.

Um nichts anderes handelt es sich aber bei dem 16-Seiten-Papier von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt unter dem Titel »Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit«. Das Pamphlet wurde inzwischen von der Frankfurter Rundschau ins Internet gestellt.

Sebastian Voigt, der sich NATO-Bodentruppen nach Libyen wünscht (Jungle World, 28.4.2011), ist Gründungsmitglied des Bundesarbeitskreises (BAK) Shalom innerhalb der Linken-Jugendorganisation »Solid«. Diese äußerst agile und aggressive Kampftruppe beschäftigt sich, wenn sie nicht gerade »Antisemiten« in den eigenen Reihen jagt, hauptsächlich mit dem Schwenken israelischer und US-amerikanischer Fahnen und dem Bejubeln der militärischen Heldentaten ihrer Idole. Ob Gaza-Feldzug (Januar 2009) oder gezielte Todesschüsse auf unbewaffnete Demonstranten an einer von keinem Staat der Welt anerkannten »Grenze« auf dem Golan: Für den BAK Shalom ist alles, was die israelischen Streitkräfte tun, legitime Selbstverteidigung. Susanne Witt-Stahl hat dieses abstoßende Phänomen punktgenau auf den Begriff gebracht, als sie von »einer schaurigen Freude am Tanz auf den Gräbern der ausgemachten Feinde« sprach. (Semit, Januar 2011)

Samuel Salzborn publiziert unter anderem in der Jungle World, die den »Antideutschen« nahesteht, und auf Henryk Broders Blog »Achse des Guten«. Inzwischen ist er durch seine ständigen Attacken gegen die Linke auch für die Mainstreammedien interessant geworden. Über seinen Geisteszustand gibt ein Artikel Auskunft, den Salzborn am 29. April 2010 auf der »Achse des Guten« veröffentlichte. Gegenstand war ein als »Podiumsdiskussion« deklariertes Tribunal, das die Jüdische Gemeinde Berlin in der Neuen Synagoge gegen die jüdisch-israelische Journalistin Iris Hefets veranstaltet hatte. Dabei waren einige Personen, mehrheitlich anscheinend ebenfalls jüdische Israelis, aufgestanden, hatten Plakate hochgehalten und gefordert, die Angegriffene aufs Podium zu lassen. Salzborn schätzt ihre Zahl, im Einklang mit den meisten Berichten, auf etwa 20 – in einem stramm prozionistisch eingestellten Publikum von mehreren hundert Menschen. Das hinderte Salzborn aber nicht, hemmungslos zu halluzinieren: »Der Schritt zu massiven Handgreiflichkeiten in der Synagoge war nicht weit, das Überschwappen einer solchen gegen die Jüdische Gemeinde zu Berlin gerichteten Eskalation zum Pogrom lediglich eine Gratwanderung. Man sollte sich nicht ausmalen, zu welchen Szenen es gekommen wäre, hätte es vor Ort keine Polizeipräsenz gegeben. Die antisemitische Stimmung, die sich schwerlich als ›nur‹ antizionistisch zu tarnen vermag, bewegt sich am Rande des Ausnahmezustandes …« Klare Schlußfolgerung: »Damit tritt als eine zentrale Aufgabe der polizeilichen Tätigkeit der nächsten Jahre auf die Agenda: Antisemiten daran zu hindern, ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen.«

Wahnhaftes Weltbild

Schon vor einem Jahr beschrieb Salzborn in der Welt (9.6.2010) die Situation der Linken so: »Die Vorfälle in der Partei, die einem nur mühsam als antiisraelisch kaschierten antisemitischen Weltbild entspringen, nehmen seit Jahresbeginn dramatisch zu. (…) Daß Linksparteifunktionäre inzwischen gemeinsame Sache mit radikalen Islamisten machen, die noch nie einen Hehl aus ihren antisemitischen Motiven gemacht haben, ist Folge eines rasanten Radikalisierungsprozesses der Partei.« »Die Linkspartei steht nun vor einer einfachen, aber folgenschweren Entscheidung: Entweder werden die Antizionisten und Antisemiten aus der Partei gedrängt, oder die Linkspartei wird zur originären parteipolitischen Heimat des Antisemitismus. Den bisherigen Eiertanz fortzusetzen ist nicht mehr möglich, die Linkspartei muß sich entscheiden: für die Demokratie oder für den Antisemitismus.«

Nach demselben wahnhaften Weltbild ist auch die hochgejubelte »Studie« gestrickt, von der in einigen prozionistischen Blogs sogar wahrheitswidrig behauptet wird, sie sei »universitär«. In Wirklichkeit erreicht sie kaum das durchschnittliche intellektuelle Niveau einer Propagandabroschüre des israelischen Außenministeriums. Gregor Gysi soll gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung (19.5.2011) geäußert haben: »Die in der Studie aufgestellten Behauptungen sind schlicht Blödsinn«. Falls er das wirklich gesagt hat, hätte er recht.

Salzborn und Voigt behaupten in ihrer »Studie«, daß die Linke nicht nur antisemitische Positionen toleriere, sondern daß diese »innerparteilich immer dominanter« würden und heute schon »die äußere Wahrnehmbarkeit der Partei« prägen. Dämonisierung Israels, einseitige Parteinahme zugunsten der Palästinenser, »bis hin zu einer offenen Solidarisierung mit den terroristischen Kräften innerhalb dieses Spektrums«, seien »seit Anfang des Jahres 2010 zunehmend zur konsensfähigen Position« der Linken geworden. Heute dominiere »ein antizionistischer Antisemitismus« die dort »öffentlichkeitswirksamen Positionierungen«. Damit sei zum allerersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine Partei, »die sich explizit zu einer Artikulationsform des Antisemitismus bekennt«, in den Vorhof bundesweiter Regierungsverantwortung gelangt. Dafür muß man den Autoren neben hysterischen Wahnvorstellungen auch völlige Ignoranz gegenüber der deutschen Nachkriegsgeschichte attestieren.

Mit dem Gysi zugeschriebenen Wort »Blödsinn« wäre unter normalen Verhältnissen eigentlich alles Notwendige über dieses primitive Politpamphlet gesagt. Die Dramatik der Lage der Linken, sowohl der Partei als auch anderer Kräfte, mit und ohne Großbuchstaben drückt sich jedoch darin aus, daß ein derart flacher, sachlich unhaltbarer Mist offenbar völlig ausreicht, um eine mehrwöchige Hexenjagd sämtlicher Mainstreammedien und etablierten Parteien zu entfesseln. Diesen Kräften scheint selbst der dümmste Anlaß recht, um Die Linke in die Enge zu treiben – und das anscheinend sogar mit öffentlichem Erfolg.

Dieses beachtliche und erschreckende Phänomen hat sehr viel zu tun mit dem, was Gregor Gysi in seiner Rede auf einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (14.4.2008) durchaus zustimmend mit der Formel bezeichnete, die »Solidarität mit Israel« sei »deutsche Staatsräson«. Was »Solidarität mit Israel« genau bedeutet, weiß in Wirklichkeit kein Mensch, und auch Gysi hat es in seiner Rede mit keinem Wort konkretisiert. Sicher ist nur, daß diese »Solidarität« ganz allgemein mit beängstigenden Zusätzen wie »bedingungslos« und »ohne Wenn und Aber« verbunden wird. In erster Linie bedeutet sie, neben Gefügigkeit gegenüber den Wünschen der jeweiligen israelischen Regierung, die Bereitschaft der Mainstreammedien und Parteipolitiker – bisher mit Ausnahme der der Linken –, sich zur blutgierigen Meute zu formieren, sobald scheinbar zentrale Interessen Israels auf dem Spiel stehen.

Deutsche Staatsräson

Selbstverständlich gilt das erst recht, wenn die eine deutsche Staatsräson sich mit einer mindestens ebenso wichtigen zweiten verbindet, nämlich dem Prinzip, daß Linke unbedingt von der Regierungsmacht ferngehalten werden müssen und daß eine Partei erst dann in den Wartesaal zum großen Glück eingelassen werden darf, wenn ihre führenden Politiker die Gewähr dafür bieten, innerhalb und außerhalb des Dienstes jederzeit für die aggressive Politik der westlichen Allianz einzutreten. Um die sachliche Richtigkeit der Vorwürfe und der daran geknüpften Artikel wird sich unter solchen Umständen kaum noch ein verantwortlicher Redakteur kümmern. Oft ist das Thema ohnehin fest von Autoren besetzt, die extrem prozionistisch eingestellt sind und es mit den Tatsachen nicht immer hundertprozentig genau nehmen. Einige von ihnen kommen ganz offensichtlich aus dem Spektrum der »Antideutschen« und vom BAK Shalom.

Für diejenigen in der Partei Die Linke, für die internationale Solidarität und Antiimperialismus noch nicht »obsolet« sind, ergeben sich daraus extrem schwierige Arbeitsbedingungen. Die Mainstreammedien werden immer als mächtige Verstärkeranlage der Parteirechten wirken, während sie alle Gegenargumente bis zur Unkenntlichkeit verdrehen und diffamieren werden. Die Diskussion um eine linke Nahostpolitik ist in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt nicht rational zu führen, wie sich soeben wieder gezeigt hat. Solange die maßgeblichen Kräfte in der Parteiführung danach streben, sich in absehbarer Zeit in irgendeine Regierungskoalition auf Bundesebene einzubringen, stehen im Grunde sämtliche zentralen außenpolitischen Koordinaten der Linken zur Disposition.

* Aus: junge Welt, 15. Juni 2011


Auszüge aus Stellungnahmen zum Beschluss der Linksfraktion

Die "junge Welt" publizierte im Anscluss an obigen Artikel auch eine Reihe von kritischen Meinungsäußerungen, die wir hier ebenfalls dokumentieren.

»Erbärmlicher Maulkorberlaß« – Aus Stellungnahmen zur Erklärung »Entschieden gegen Antisemitismus«

Pax Christi

Sehr geehrter Vorstand der Fraktion Die Linke,

die Linke war bislang eine Partei, die den Spagat ausgehalten hat zwischen der Betonung israelischer Interessen und dem Eintreten für die Rechte der Palästinenser. Seit dem Maulkorberlaß ist das nicht mehr so.

Der Fraktionsvorstand hat sich für vermeintlich israelische Interessen entschieden. Vermeintlich deshalb, weil Sicherheit und Frieden für Israel nur über Gerechtigkeit und Frieden für die Palästinenser erlangt werden können. Gerade das Anprangern von Menschenrechtsverletzungen und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen sind jetzt erforderlich.

Die Fraktionsführung versucht nun, diejenigen aus der Partei auszugrenzen, die sich glaubwürdig gegen die Kollektivstrafe Gaza-Blockade wenden, indem sie an der Gaza-Flotte teilnahmen, die gegen die völkerrechtswidrige israelische Besatzung protestieren, indem sie auf den Kauf von Siedlungsprodukten verzichten oder die überlegen, was passiert, falls die Zwei-Staaten-Lösung scheitert. Durch Anpassung an die Merkelsche Staatsräson kann die Partei vielleicht Konflikten aus dem Weg gehen. Sie verliert aber an Glaubwürdigkeit, weil sie ihre eigenen Werte mit dem erbärmlichen Maulkorberlaß untergräbt.

Mit freundlichen Grüßen, Wiltrud Rösch-­Metzler, Pax-Christi-Vizepräsidentin


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Die Linke. Kreis Soest

Liebe Genossinnen und Genossen der Bundestagsfraktion!

Der Vorstand Die Linke. Kreis Soest hat folgende Resolution beschlossen: »Resolution zur Unterstützung der Gaza-Flottille«. Die erneute Entsendung der Friedensflotte ist notwendig, weil ein erfolgreiches Durchbrechen der Blockade ein starkes politisches Signal für eine Beendigung der Blockade und damit für einen gerechten Frieden in Nahost ist und Israel durch die Blockade das Gazastreifens die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Baumaterialien und Medikamenten behindert. Die Wirtschaft im Gazastreifen ist zusammengebrochen. Die langjährige Blockade das Gazastreifens nimmt den Menschen jede Entwicklungsperspektive und demoralisiert sie dadurch. Die Blockade stärkt in Israel die extreme Rechte und die Stellung des Militärs. Auch auf palästinensischer Seite geraten diejenigen Kräfte ins Hintertreffen, die eine gerechte Lösung für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern anstreben. Beide Gesellschaften werden militarisiert und entdemokratisiert. Die Blockade versperrt nicht nur die Versorgungswege, sondern auch jeden Schritt auf dem Weg zu einem Frieden im Nahen Osten. Deshalb fordern wir die Aufhebung der rechtswidrigen und unmenschlichen Blockade des Gazastreifens und den sofortigen Stopp der Waffenlieferungen und der militärischen Zusammenarbeit mit Israel.«

Liebe Genossinnen und Genossen!

Ein sensibles Thema wie die Positionierung zum Nahostkonflikt muß solidarisch diskutiert werden. Drohungen, Denk- und Handlungsverbote haben dabei zu unterbleiben. Euren Beschluß vom 7. Juni und sein Zustandekommen sehen wir deshalb äußerst kritisch. Wir sind der Überzeugung, daß die unterschiedlichen Meinungen in der Bundestagsfraktion und auch die Unterstützung der Gaza-Flottille durch linke Abgeordnete und durch die Friedensbewegung nichts mit Antisemitismus zu tun haben. Die Linke ist und bleibt antimilitaristisch und antirassistisch. Mit solidarischen Grüßen

Für den Vorstand Die Linke. Kreis Soest
Michael Bruns


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Murat Cakir, Sprecher des Kreisverbandes Die Linke. Kassel-Stadt

Ohne Zweifel, die innerparteiliche Auseinandersetzung um den Nahostkonflikt bedarf einer klärenden Antwort. Diese Antwort durch eine Grundsatzdebatte unter Einbeziehung aller Parteimitglieder zu suchen, ist eine dringliche Aufgabe. Durch eine von Parteioberen aufoktroyierte Meinung wird diese Antwort sicherlich nicht zu finden sein. Aber durch eine offene, auf den antifaschistischen, antirassistischen und demokratischen Traditionen stehende und sich an der historischen Verantwortung am Holocaust sowie den Grundwerten der Linken orientierende Debatte wäre dies möglich.

Daß der Fraktionsbeschluß für eine solche Debatte untauglich ist, wird an dem endgültigen Charakter der drei Punkte (Ein-Staaten-Lösung, Boykottaufruf und Gaza-Flottille) deutlich, weil der Beschluß keine grundsätzlichen Fragen zuläßt. Das Stellen und Beantworten von grundsätzlichen Fragen ist aber unabdingbar für eine linke Antwort, die von einer überwältigenden Mehrheit der Parteimitglieder getragen werden kann. (...)


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Landesarbeitsgemeinschaft Migration, Integration, Antirassismus der Partei Die Linke. NRW

Der Beschluß fällt nicht nur dem Freiheitskampf der Palästinenserinnen und Palästinenser, sondern auch den Forderungen eines Teils der israelischen Friedensbewegung in den Rücken. Viele israelische Linke fordern, wie schon der Linkszionist Martin Buber, die Ein-Staaten-Lösung für Israel/Palästina. Sie fordern einen Staat, in dem Menschen jüdischer und arabischer Herkunft gleichberechtigt zusammenleben können. (...)

Ein Aufruf zum Boykott israelischer Waren ist nicht antisemitisch, wie in dem Beschluß unterstellt wird. Die israelische Linke beteiligt sich am Boykott israelischer Waren aus den widerrechtlich errichteten Siedlungen in den besetzten Gebieten. (...)

Die Teilnahme von Bundestagsabgeordneten unserer Partei u.a. an der Gaza-Flotille in 2010 wurde von der israelischen und jüdischen Friedensbewegung weltweit als mutiger Schritt gelobt. Die Solidarität mit unterdrückten Völkern gehört zum Selbstverständnis linker, internationaler Politik. Warum dies nicht auch für das palästinensische Volk gilt, erschließt sich uns nicht. (...)

Düsseldorf, 13.6.2011, Sprecherinnen und Sprecher der LAG MIA der Partei Die Linke. NRW


Dr. Peter Strutynski, Sprecher des Friedensratschlags

Der Mainstream-Diskurs von FAZ bis zur taz versucht seit geraumer Zeit, der ungeliebten Linkspartei alle möglichen Stolpersteine und Fallen in den Weg zu stellen, um sie zumindest wieder aus den westdeutschen Landtagen zu vertreiben. Die uneingeschränkte Solidarität mit den USA und mit Israel gehört zu den Kernelementen (west-)deutscher Außenpolitik, die von Kanzlerin Merkel anläßlich ihrer Knesset-Rede zum 60jährigen Bestehen des Staates Israel zur »Staatsräson« erhoben wurde und damit so etwas wie Verfassungsrang erhalten hat. Dumm nur, daß es auf seiten der Linken eine Reihe von Leuten in »höheren Ämtern« gibt, die auf Teufel komm raus nach Anschlußfähigkeit zu den etablierten Kräften dieser Republik suchen, sei’s, weil sie von der Gedankenwelt der Bourgeoisie angesteckt wurden, sei’s, weil sie darin einen realpolitischen Zugang zur Regierungsfähigkeit mit den Parteien des herrschenden Blocks vermuten. Beide Wege, die freiwillige Anpassung an die herrschende Ideologie und das realpolitische Kalkül der »Machtpolitiker«, enden in einer Sackgasse, in der die Linke als gesellschaftspolitische Alternative zum herrschenden kapitalistischen Weltsystem zerrieben wird. (...)



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