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Gute Nacht, Aufklärer!

Mit dem NSU-Ausschuß endet die politische Aufarbeitung der neofaschistischen Mordwelle. Aufgeklärt ist bislang allerdings gar nichts

Von Wolf Wetzel *

Nach rund 15 Monaten, 70 Sitzungen und fast 100 Zeugenbefragungen endete am 16.03.2013 die letzte öffentliche Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Wenn der neu zu wählende Bundestag kein weiteres parlamentarisches Gremium einsetzt, ist damit die politische Aufarbeitung des NSU-VS-MAD-IM-Komplexes beendet.

Keine Frage: Die verschiedenen (auf Länder- und Bundesebene angesiedelten) Untersuchungsausschüsse haben einiges an die Öffentlichkeit gebracht, was andernfalls ein Staatsgeheimnis geblieben wäre. Umso erschreckender ist es, dem Chor der Aufklärer zuzuhören: Man sei im Laufe der 15 Monate »immer wieder auf Abgründe gestoßen« (Petra Pau). Es seien unglaubliche Pannen passiert… An die man glauben will. Es ist von strukturellen Defiziten die Rede, von rassistischen Ressentiments, die die Ermittlungen leiteten, vom »Totalversagen unserer Sicherheitsbehörden in allen Etagen« (Grünen-Abgeordnete Wolfgang Wieland).

Dieses Erschrecken und Entsetzten kennt man, beides hat Übung: Das war im Zuge der Pogrome Anfang der 90er Jahre nicht anders. Jeder Brandanschlag, jeder rassistische Mord wurde medial und politisch bedauert, um im zweiten Absatz die Abschaffung des Asylrechts zu fordern. Was Empathie und Erschrecken vortäuschte, endete in eine nachträgliche Lizenzierung der neonazistischen Mord- und Brandserie – die Überführung eines willkürlichen Rassismus in ein staatlich-geordnetes und institutionalisiertes Verfahren. Mit der Abschaffung des Asylrechts 1993 war und ist Deutschland de facto »flüchtlingsfrei«. Seitdem hat kein Flüchtling mehr das Recht, hier Schutz zu suchen, wenn er/sie über so genannte sichere Drittstaaten kommt, womit sich Deutschland lückenlos umgeben hat. Was Anfang der 90er Jahre auf der Straße, in Einzelfällen exekutiert wurde, wurde ab 1993 zum integralen Bestandteil des »anständigen Deutschlands«.

Auch damals wollte man einen taterheblichen, strafrechtlich relevanten Zusammenhang zwischen politischen Anweisungen wie »Das Boot ist voll«, »Es reicht« und denen, die sich auf den gut ausgeleuchteten Weg machten, den (regierungsamtlichen) Aufforderungen Taten folgen zu lassen, nicht erkennen. Auch damals war einer der bestausgerüsteten Repressionsorgane nicht in der Lage, die mehrtägige Belagerung eines Flüchtlingsheimes zu beenden. Auch damals war es bestenfalls eine bedauerliche Panne, als Polizeihundertschaften Pause bzw. Schichtwechsel machten, damit das belagerte Flüchtlingsheim tatsächlich in Brand gesteckt werden konnte.

Pogrome und Terror

Zwanzig Jahre liegen zwischen den Pogromen Anfang der 90er Jahre und dem wieder einsetzenden Zweiklang aus Entsetzen und Fassungslosigkeit, nachdem der NSU die Terror- und Mordserie aus der staatlich verordneten Blutspur des organisierten Verbrechens im ausländischen Milieu holte und die zehnjährige Aufklärung zur Farce machte.

Verdächtigte man gemeinsam und unisono über zehn Jahre die Opfer und Familienangehörigen, an der Ermordung ihrer Nächsten selbst schuld zu sein, so trauert man heute gemeinsam um die Opfer. Eine Trauer, die heute so traurig und heuchlerisch klingt wie vor 20 Jahren: »Die traurige Wahrheit ist: Zehn Menschen starben, viele wurden verletzt, und der Staat konnte sie nicht schützen. Er hat die Gefahr durch Neonazis nicht ernst genug genommen und sich Sicherheitsstrukturen geleistet, die es den Tätern leicht machten, unentdeckt zu bleiben. Der Ausschuss hat allerdings keine Belege für den Verdacht gefunden, staatliche Stellen könnten das Treiben der Mörder gedeckt oder sogar gefördert haben.« (SZ vom 16.5.2013)

Jeder, aber auch jeder Satz dieser »trauriger Wahrheit« ist blanker Hohn. Es wäre zu gar keinen Opfern gekommen, wenn man die zahlreichen Möglichkeiten genutzt hätte, die abgetauchten Neonazis aus Jena festzunehmen, bevor sie ihre Terror- und Mordserie begannen. Über zehn Jahre hat man die Opfer verhöhnt und erniedrigt, obwohl es keinen einzigen Beweis für die Behauptung gab, die neun toten Migranten seien Opfer krimineller Auseinandersetzungen. Es gab mannigfaltige Möglichkeiten, die Opfer in Schutz zu nehmen, aber genau das war in keinen einzigen Fall Absicht der staatlichen Behörden.

Auch der Topos »Der Staat habe die neonazistische Gewalt nicht ernst genug genommen« ist an Dreistigkeit und Dummheit nicht zu überbieten: Staatliche Behörden waren mit über 25 V-Leuten im Umfeld des NSU-Netzwerkes aktiv. Auch mit deren Hilfe wurden sie bewaffnet, gewarnt, mit Geld und Papieren versorgt. Staatliche Behörden stocherten nicht im Dunklen, sondern waren an der Herstellung des neonazistischen Untergrundes proaktiv beteiligt. Und nicht anders verhielt es sich bei den vielen Möglichkeiten, die Terror- und Mordserie des NSU zu beenden: Man war mit Ernst und großem Aufwand dabei, die Aufklärung dieser Mordserie zu verhindern.

Aufklärung mit Ernst und großem Aufwand verhindert

Und wer nach 15 Monaten PUA, dank zahlreicher Dokumente, die an die Öffentlichkeit gelangt sind, immer noch behauptet, das die Täter »unentdeckt« blieben, der beleidigt selbst einen Polizeibeamten im ersten Dienstjahr. Nicht erst das kürzlich der Öffentlichkeit präsentierte Geheimpapier des sächsischen Verfassungsschutzes vom 28.4.2000 belegt, dass man sehr wohl autobahnbreite Spuren zu den abgetauchten Neonazis und zu ihren Unterstützern hatte. Gerade die fünfzehn Monate Untersuchungsausschuß belegen, daß es nicht an Spuren zu den abgetauchten Neonazis fehlte, sondern an der Absicht, diesen zu folgen!

Und dann das Ende der Aufklärer: »Der Ausschuß hat allerdings keine Belege für den Verdacht gefunden, staatliche Stellen könnten das Treiben der Mörder gedeckt oder sogar gefördert haben.« Für diesen Satz gäbe sicherlich auch in der Sendung »Neues aus der Anstalt« Verwendung. Wenn die (mit Klar – oder Decknamen bekannten) 25 V-Leute, die im NSU-Netzwerk aktiv waren, weder eine Straftat verhindern, noch eine drohende Gefahr abwenden konnten, wenn alleine diese über 25 V-Leute nachweislich (schwere) Straftaten mit vorbereitet und Gefahren erst geschaffen haben, dann bedeutet diese Staatsbeteiligung am NSU-Netzwerk bis zum Jahr 2000 Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, und ab 2000 Beihilfe zu Mord.

Wenn es tatsächlich so wäre, wie die medialen und politischen Aufklärer suggerieren wollen, daß staatliche Stellen das Treiben der neonazistischen Mörder weder gedeckt, noch gefördert haben, warum wurden dann fast alle Unterlagen, Akten, Protokolle zu den besagten V-Leuten vernichtet?

Wenn diese belegen könnten, dass all diese V-Leute nichts von dem gewußt haben, wovon auch der PUA nichts wissen will, dann hätte man Hunderte Akten dieses V-Leute nicht vernichtet, sondern zum Beweis dieses Freispruches nach Berlin geschafft! So einfach ist das.

Wenn aus Opfern Blutdiamanten werden

Bei aller Disharmonie, die man unentwegt für das Versagen im Fall des NSU verantwortlich machen will, zeigt doch das Konzert der Demokraten, wie einstimmig, synchron und arbeitsteilig der Erkenntnisgewinn ist. Der PUA kommt zu dem Schluß (der bereits am Anfang Regierungsdiktion war), daß man Pannen konstatieren muß und eine Beteiligung staatlicher Stellen ausschließen kann und die Ministerien verwandeln diesen Freistoß sicher ins Tor. Kaum ist die letzte Sitzung des PUA vorbei, meldet sich die ›Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus‹ mit einem Abschlußbericht zu Wort und empfiehlt genau das, was man seit Jahren fordert und nun mit dem Blut der Opfer signieren will:

Die Befugnisse des Generalbundesanwalts sollen gestärkt, die Zuständigkeiten des Bundesamtes für Verfassungsschutzes erweitert werden und V-Leute und V-Mann-Führer sollen sich nun sorglos an Straftaten beteiligen können: »Die Kommission fordert Rechtssicherheit für V-Leute und die sie betreuenden Beamten. Es müsse bundesweit einheitliche Regeln geben, wann Quellen straffrei bleiben könnten.« (SZ vom 23.5.2013)

Anders formuliert: Was bisher Beteiligung an schweren Straftaten ist (und politisch vor Strafverfolgung geschützt werden muß), soll in Zukunft sicher in Straffreiheit münden. Oder noch anders gesagt: Das, was man bisher als Pannen verkaufen mußte, soll in Zukunft integraler Bestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur werden.

Das ist nicht nur im Sinne normativen Rechts absurd, es fügt einen weiteren Akt des Bodenlosigkeit hinzu: Über zehn Jahre benutzte man die Opfer als potentielle TäterInnen, nun nutzt man sie als Blutdiamanten für gesetzliche und institutionelle Optimierungen, die man schon immer vorhatte und wofür die Opfer ein letztes Mal gut (genug) sind.

Wenn viele zu Recht fragen: Wem nutzt(e) diese neonazistische Terror- und Mordserie? Wer kann aus dem Gewähren-lassen Profit ziehen, dann finden sich in dieser Blutdiamantenpolitik zahlreiche Belege.

* Aus: junge Welt, Freitag, 31. Mai 2013


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