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Bilder im Kopf

NSU-Prozeß: Angeklagter Carsten S. von Verteidigung des Neonazis Ralf Wohlleben ins Verhör genommen

Von Claudia Wangerin, München *

Wenn nach 13 bis 15 Jahren detaillierte Erinnerungen abgefragt werden, dann kommen bei Carsten S. immer wieder »Bruchsteine oder Bilder« hoch, wie er sagt. Er wolle seine Glaubwürdigkeit unterstreichen, begründete er am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht München den Entschluß, nun doch die Fragen der Verteidigung seines Mitangeklagten Ralf Wohlleben zu beantworten. Im Frühsommer hatte S. dies an die Bedingung geknüpft, daß auch Wohlleben umfassend zur Person und zur Sache aussage, was dieser bis heute nicht tut. Beiden wird Beihilfe zur Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) vorgeworfen. S., heute 33 Jahre alt und zur Tatzeit noch heranwachsend, hat die Übergabe einer Schußwaffe an zwei mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe um die Jahrtausendwende in Chemnitz gestanden. Beschafft haben will er sie nach Instruktionen von Wohlleben, heute 38 Jahre alt und wie die gleichaltrige Beate Zschäpe in Untersuchungshaft. S. will bereits im Jahr 2000 der rechten Szene den Rücken gekehrt haben und befindet sich heute in einem Zeugenschutzprogramm.

Für dieses interessierte sich Wohllebens Verteidiger Olaf Klemke gleich zu Beginn der Vernehmung. »Zu meiner jetzigen Situation muß ich nichts sagen«, stellte S. klar, erwähnte aber auf Nachfrage, er erhalte »keine Leistungen« von der Zeugenschutzstelle. Von den Verhaltensrichtlinien gab er nur preis, er dürfe keine Straftaten begehen.

Bevor er auf die Details der Waffenübergabe zu sprechen kam, fragte Klemke, der sich die Bezeichnung »Szeneanwalt« verbittet, S. unter anderem nach einem Neffen, der »nicht gerade rein deutschen Blutes« sei. Der Mann seiner Schwester sei aus Ghana, stellte S. auf Nachfrage klar. Das zunächst bedrohlich klingende Interesse an dem Kind – inzwischen wohl ein junger Mann – erklärte sich anschließend mit einer Episode aus den 1990er Jahren und dem widersprüchlichen Verhalten der damaligen Jenaer Neonazikameraden Carsten S., André Kapke und Ralf Wohlleben, das Klemke offenbar zur Entlastung seines Mandanten anführen will. Sie hätten damals »ganz normal« mit seinem Neffen Fußball gespielt, erklärte S. auf Nachfrage. An »irgendwelche Bemerkungen« über dessen Hautfarbe konnte er sich nicht erinnern.

Als es ans Eingemachte ging, war sich S. am Donnerstag erneut sicher, daß er das Geld für eine Pistole, die für die untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bestimmt war, von Ralf Wohlleben erhalten habe. An die Geldübergabe selbst konnte er sich aber nicht erinnern. Unklar blieb in seinen Antworten auch, ob er für den Kaufpreis der Waffe, der zwischen 500 und 1000 D-Mark gelegen haben soll, die Zustimmung von Ralf Wohlleben eingeholt oder dieser ihm ein Limit genannt hatte.

Wohlleben und Kapke sollen S. mit der Beschaffung beauftragt haben, weil sie selbst sich beobachtet fühlten. Für Gespräche über das untergetauchte Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sollen sie mit ihm »rausgegangen« sein, als Grund nennt er »eine mögliche Verwanzung« ihrer Wohnungen. Allerdings will er die Pistole nach der Beschaffung Wohlleben in dessen Arbeitszimmer gezeigt haben. Der habe mit Lederhandschuhen den dazugehörigen Schalldämpfer aufgeschraubt, die Waffe auf S. gerichtet und dabei gelacht. »Zwischen lustig und unangenehm«, antwortete S. auf die Frage, wie er das empfunden habe. Ob und was dabei gesprochen worden sei, wisse er nicht mehr. In welcher Vernehmung er den Vorgang zum ersten Mal geschildert habe, fragte Anwalt Klemke. »Das muß beim zweiten oder dritten Mal gewesen sein«, erklärte S. Für die erste Vernehmung nach seiner Festnahme durch die Spezialeinheit GSG 9 könne er es ausschließen. Ob er von sich aus geschildert habe, daß der Herr Wohlleben Handschuhe getragen habe, hakte Klemke nach. Bundesanwalt Jochen Weingarten habe danach gefragt, so S. Auch, wie oft er Bilder der mutmaßlichen Tatwaffe vom Typ Ceska 83 nach Aufdeckung des NSU 2011 in den Medien gesehen habe, wollte Klemke wissen – mindestens 20 Mal, antwortete S. Die Fragen zielten darauf ab, ob S. sie überhaupt mit Sicherheit als diejenige identifizieren konnte, die er damals übergeben hatte.

* Aus: junge Welt, Freitag, 11. Oktober 2013


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