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Notizen aus dem Brandschutt: NSU plante weitere Morde

Ermittler des BKA listete vor Münchner Gericht 267 mögliche Anschlagsziele des rechtsextremistischen Terrornetzwerkes auf

Von René Heilig *

Mosaikstein um Mosaikstein wird zusammengetragen. Doch man ist weit entfernt von einem Gesamtbild des rechtsextremistischen Terrornetzwerkes NSU, dem zehn Menschen zum Opfer gefallen sind.

Kaum dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Bankraub in Eisenach am 4. November 2011 angeblich Selbstmord verübt hatten, ging ihr Unterschlupf in der Zwickauer Frühlingsstraße 26 in Flammen auf. Die Dritte im Terrorbund, Beate Zschäpe, hatte – so die Anklage – im irdischen Fegefeuer Beweise verschwinden lassen wollen. Das gelang nur teilweise.

Vor dem Oberlandesgericht München, bei dem neben Zschäpe vier mutmaßliche Helfer des nationalsozialistischen Untergrundes angeklagt sind, berichtete ein Staatsschützer des Bundeskriminalamtes (BKA) am gestrigen 46. Verhandlungstag über weitere Anschlagspläne des NSU. Aus Notizen, Listen, ausgedruckten Routenplanern und handschriftlichen Vermerken auf Stadtplänen habe man 267 weitere mögliche Anschlagsziele ermitteln können. Sie verteilen sich bundesweit. Die Hinweise führen nach München, Nürnberg, Kassel, auch das Büro einer SPD-Abgeordneten in Nordrhein-Westfalen ist aufgelistet. Eine türkische Trinkhalle in Dortmund wird zwar als lohnendes Ziel bezeichnet, doch sei der Betreiber über 60 Jahre alt – und damit zu alt, um in das Mordschema der Naziterroristen zu passen?

Da das Gericht die Taten nicht chronologisch aufarbeitet, ist es bisweilen mühsam, dem Geschehen im Saal zu folgen. Am heutigen Mittwoch beispielsweise soll es um die Herkunft der Ceska-Mordwaffe gehen. Das BKA hat sich bei der Aufklärung der Waffenbeschaffung für die Terroristen schwer getan. Es gibt zahlreiche Fragezeichen. Einigermaßen klar sieht man jedoch bei der Ceska 83, die bei neun Morden benutzt wurde. Sie wurde – von den NSU-Killern offenbar sehr bewusst – als Markenzeichen eingesetzt. Das Gericht will zur Herkunft dieser Waffe drei Zeugen aus der Schweiz hören. Nicht alle haben Bereitschaft avisiert.

Spannend kann es im kommenden Monat werden. Dann müssen die Eltern Mundlos und Böhnhardt aussagen. Da ihre Söhne tot sind, haben sie kein Zeugnisverweigerungsrecht. Anders als die Mutter von Zschäpe, die gleichfalls geladen ist. Beobachter erhoffen sich unter anderem, dass die Hauptangeklagte, die dem Prozess bislang scheinbar ungerührt folgt, dann Regungen zeigt.

Enger wird es auch für den mitangeklagten ideologischen Drahtzieher des Terrors, Ralf Wohlleben. Während einer jüngst vorgenommenen Durchsuchung bei einem bekannten Neonazi fanden Polizisten eine vom Ex-NPD-Funktionär Wohlleben verfasste »Geburtstagszeitung« voller antisemitischer Hetze und Todesdrohungen gegen Politiker. Die Funde wurden den Prozessakten beigefügt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Oktober 2013


Fragwürdige Methoden

Nach einem NSU-Mord in München vernahm ein Kriminalbeamter schon 2006 Bekannte des Rechtsterroristen Martin Wiese. Neonazis sah er in ihnen nicht

Von Claudia Wangerin, München **


War es Zufall, daß der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) gerade in München zum ersten Mal ein Opfer griechischer Herkunft auswählte, oder spielte eine lokale Szeneerinnerung dabei eine Rolle? Bis zur Aufdeckung des NSU im November 2011 hatte die Polizei ganz andere Sorgen – das wurde am Dienstag bei der Zeugenvernehmung eines weiteren Ermittlers im Münchner NSU-Prozeß deutlich.

Kriminalhauptkommissar Mathias Blumenröther vom Polizeipräsidium München hat sich auf der Suche nach einem Motiv für den Mord an Theodoros Boulgarides am 15. Juni 2005 unter anderem dafür interessiert, ob und wie dessen Lebensgefährtin verhütete. Obwohl bundesweit bereits sechs Männer türkischer und kurdischer Herkunft mit derselben Waffe erschossen worden waren, ebenso wie der Münchner Schlüsseldienstinhaber, fragte Blumenröther dessen Freundin, ob sie die Pille nehme. Sowohl Boulgarides als auch seine neue Partnerin seien zur Tatzeit noch nicht rechtskräftig geschieden gewesen, erklärte der Hauptsachbearbeiter des Mordfalls am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München auf Nachfrage der Nebenklagevertreterin Angelika Lex. Er habe abklären wollen, ob die Lebensgefährtin bereit war, schwanger zu werden, um einen »möglichen Hintergrund für ein Motiv« herauszufinden.

Rechtsanwalt Yavuz Narin, der mit Lex die Angehörigen von Boulgarides vertritt, hatte zuvor den Zeugen Blumenröther als »inkompetent« in Sachen Rechtsextremismus bezeichnet. Mit handfestem Grund: Der Kriminalbeamte mußte auf Nachfrage von Narin einräumen, daß er im Jahr 2006 auch persönliche Bekannte des verurteilten Rechtsterroristen Martin Wiese und des Münchner Neonazis Norman Bordin im Zusammenhang mit dem Mord vernommen hatte, ohne diese Bekanntschaft als ernsthaften Bezug zur rechten Szene anzusehen. Einer der beiden Männer, Carsten R., war Nutzer eines Pkw, der am 18. Juni 2005 – drei Tage nach dem Mord – auffällig langsam am Tatort vorbeigefahren war. Anwohner hatten deshalb das Kennzeichen notiert. Die Spur führte außerdem zu Michael S.: Blumenröther bestellte beide zur Vernehmung ein und fand sie »kooperativ«, als sie ihm versicherten, die Kontakte zu Bordin und Wiese seien rein privater Natur und lägen lange zurück.

Narin konfrontierte den Polizisten auch mit dem Aktenvermerk eines Kollegen mit türkisch klingendem Namen, der damals in Betracht gezogen hatte, Herr S. könne durch seine Beziehung zu Norman Bordin Zugang zu Waffen und Sprengstoff haben. »Das höre ich heute zum ersten Mal«, antwortete Blumenröther kleinlaut. Zunächst hatte er sich nicht einmal mehr an den Vornamen von Martin Wiese erinnert, der im Jahr 2003 bundesweit durch die Schlagzeilen ging. Damals war aufgeflogen, daß er einen Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München geplant hatte. Norman Bordin übernahm während Wieses Haftzeit dessen Aufgaben in der »Kameradschaft Süd«.

Zudem fragte Narin Blumenröther nach der Gaststätte »Burg Trausnitz«. An die Prügelattacke mehrerer Neonazis gegen den Griechen Artemios T. vor dem Lokal im Jahr 2001 konnte sich der Polizist nur dunkel erinnern. Bordin und seine Kameraden waren beteiligt – zuvor hatten sie Martin Wieses Geburtstag gefeiert.

Blumenröther, der im Mordfall Boulgarides keine Hinweise auf ein rassistisches, auf Nachfrage aber auf ein »ausländerfeindliches« Motiv gesehen haben will, gab an, die Polizei habe damals die Verwechslung von Boulgarides mit einem Türken in Betracht gezogen.

Auf einige Fragen Narins reagierte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl am Dienstag ungehalten. Der Nebenklageanwalt solle »die Zusammenhänge und das Ziel darlegen«, verlangte er. »Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß es an den Tatorten mögliche Helfer bei der Ausspähung gegeben hat«, erklärte Narin. »Ich bin der Auffassung, daß der Zeuge in diesem Bereich jedenfalls völlig inkompetent ist«. Zur Begründung verwies der Anwalt auf die Herangehensweise des Beamten, in einer Vernehmung zu fragen, ob der Vernommene Mitglied der rechten Szene sei – und sich zufrieden zu geben, wenn dieser das verneine.

Immerhin konnte sich Blumenröther noch daran erinnern, was dem Bruder des ermordeten Boulgarides als möglicher Tathintergrund eingefallen war: »Daß da draußen wohl ein ausgetickter Typ rumläuft, der Ausländer umbringt, aus welchem Grund auch immer«.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. Oktober 2013


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