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Schlüsselfragen werden ausgespart

Von Yücel Özdemir *

Am vergangenen Dienstag hat das Oberlandesgericht München die Beweisaufnahme zu den Morden des NSU eröffnet. Das erste Opfer war der Blumenhändler Enver Şimşek. Das Gericht hatte Kriminalpolizisten geladen. Als Zeugen. Zahlreiche Bilder, Karten und Zeichnungen wurden betrachtet und bewertet, der Tatvorgang detailliert nachgezeichnet.

Die Beweisvorführung erfolgt routiniert. Doch nach all den Schilderungen bleibt eine Schlüsselfrage: Warum sind die Polizeibeamten nicht zumindest auch von einem ausländerfeindlichen Motiv ausgegangen, warum haben sie nie in diese Richtung ermittelt? Der Vorsitzender Richter Götzl verweist auf die parlamentarischen Untersuchungskommissionen des Bundes und der Länder. Hier seien eben diese Fragen beantwortet worden, meint er. Aber gerade da gibt es Lücken, die nachdenklich machen. Denn in den Berichten der Untersuchungskommissionen werden zwar Ermittlungsfehler eingeräumt – aber mehr auch nicht.

Auch der »Jahrhundertprozess« scheint keine Antworten geben zu können. Weder die geladenen Beamten noch die Fragen des Richters geben Hoffnung. Die Anwälte der Opferfamilien haben ihrerseits keine Möglichkeit, dieser Schlüsselfrage nachzugehen. Ihre Zeugenbefragung ist in diesem entscheidenden Punkt eingeschränkt. Sie dürfen nur Fragen stellen, die sich ausschließlich auf die vorgelegten Dokumente und Beweise beziehen. Die öffentliche Diskussion um die Verantwortung der Polizei zieht sich zwar bis in den Gerichtssaal. Doch dort wird großer Wert darauf gelegt, die Beamten nicht als Beschuldigte zu behandeln. Fragen, die den Finger in die Wunde legen, sind offensichtlich nicht erwünscht. Merkwürdig – aber es ist so, wie es ist.

Im Fall Şimşek wurden die Ermittlungen in völlig falsche Richtungen gelenkt. Die Nürnberger Polizei suchte nach Verbindungen zur türkischen Mafia und Drogenszene. Doch sie ging noch weiter. Die Familie Şimşek wurde von der Nürnberger Polizei des Mordes verdächtigt. Mehrmals wurden die Opferangehörigen verhört. Die Polizei ging hart mit ihnen um.

Jedes Puzzleteil, das sich unter anderem durch die Zeugenaussagen ergibt, ist wichtig. Entscheidend wird sein, welches Gesamtbild daraus entsteht. Das Bild, das sich zum jetzigen Zeitpunkt bietet, ist klar: Eine umfassende Ermittlung der Polizei fehlte nicht nur in Nürnberg, sondern bei allen NSU-Mordfällen.

Aus juristischer Sicht ist es wichtig, Gewissheit zu bekommen, ob die Morde von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verübt wurden und welche Rollen die Personen auf der Anklagebank spielten. Aber die Erwartungen der in Deutschland lebenden türkeistämmigen Migranten gehen weiter. Für sie wird die Aufarbeitung erst dann beendet sein, wenn sie wissen, welche Kräfte die Morde in Kauf nahmen, welches Ziel sie hatten und warum die Opferangehörigen jahrelang kriminalisiert wurden.

Die Aufklärung der NSU-Morde schließt somit auch die Frage nach jenen ein, die letztlich verantwortlich sind, dass die Ermittlungen derart fehlgelenkt wurden. Es gibt bislang wenig Hoffnung, dass der Prozess den »Schleier des Geheimnisses« beiseite schiebt. Falls sich daran nichts ernsthaft ändert, werden die Verantwortlichen im Labyrinth der Justiz abtauchen und einfach entkommen können.

* Yücel Özdemir ist Deutschland-Korrespondent der türkischen Zeitung »Evrensel«.

Aus: neues deutschland, Montag, 15. Juli 2013



Endpunkt auf halber Strecke?

Martina Renner: Zu viel ist nur angerissen bei der Aufklärung in Sachen NSU **

Martina Renner ist stellvertretende Chefin der Thüringer Linksfraktion und Obfrau im Untersuchungsausschuss. Sie kandidiert für den Bundestag.

Die Untersuchungsausschüsse zum NSU-Terror und dem »Staatsversagen« haben sich in den Sommer verabschiedet oder die Mitarbeiter schreiben Abschlussberichte. Sie sind Obfrau der LINKEN im Thüringer Untersuchungsausschuss. Mit welchem Gefühl machen Sie Pause?

Pause? Nur teilweise. Die Arbeit geht ja weiter, auch ohne Sitzungen. Der Thüringer Untersuchungsausschuss hat für die Zeit nach der Sommerpause schon jetzt ein klares Programm: Wir befassen uns mit der Phase des Untertauchens des – wie man damals sagte – Jenaer Bombenbauertrios, aus dem die NSU-Terrorgruppe entstand. Dabei schauen wir auch nach Sachsen, fragen, warum die Fahndung der Polizei und die Nachstellungen verschiedener Landesämter für Verfassungsschutz sowie des Bundesamtes so erfolglos blieben. Bei dem Thema war es bei den jüngsten Sitzungen zu erheblichen Widersprüchen in der Darstellung von Polizeibeamten und Geheimdienstlern gekommen. Der zentrale Punkt lautet: Wie konnte es sein, dass die Drei im Januar 1998 unter den Augen der Polizei Jena verlassen konnten? Warum wurde die Fahndung der Polizei vom Verfassungsschutz durch falsche Fährten in die Irre geführt? Wie nah waren die Geheimdienstquellen an den Dreien in Chemnitz dran?

Sie wissen inzwischen so viel, um die richtigen Fragen zu stellen?

Genau. Aber das zu erreichen, war mühsam genug. Falls die Auskünfte demnächst nicht zufriedenstellend sind, müssen wir gegebenenfalls von Möglichkeiten der Gegenüberstellung oder der Vereidigung Gebrauch machen. Wir müssen herausbekommen, ob es möglich gewesen wäre, die Rechtsterroristen zu irgendeinem Zeitpunkt zu stellen – und damit die Anschlags- und Mordserie zu verhindern. Da treffen wir uns mit dem berechtigten Anliegen der Hinterbliebenen der Opfer.

Wie steht es um die Autorität des Ausschusses als Organ der Demokratie? Ich hatte bisweilen den Eindruck, dass es daran mangelt. Zeugen erscheinen nicht, reden sich heraus ...

Man kann es andersherum formulieren: Ich glaube, einige haben den Ernst der Lage begriffen und können sich deswegen nicht erinnern, oder versuchen, dem Ausschuss ihre falsche Darstellungen zu verkaufen, weil sie ihre eigene Rolle weder thematisieren wollen noch in der Lage sind, tatsächlich selbstkritisch das Geschehen zu reflektieren. Oft stoßen wir auf die Ansicht: Wir haben alles richtig gemacht, wenn Fehler gemacht wurden, dann im Nachbarbüro. Und dann gibt es Zeugen, die nur ärztliche Atteste vorweisen, bei anderen ist es unerheblich, ob sie was sagen oder nicht.

Das sind »Erinnerungslose«?

Erinnerungslos oder unwillig? Schwer zu beurteilen, doch der Ausschuss wird es müssen, weil daran die Frage hängt, inwieweit wir Zeugen als glaubwürdig einschätzen, oder warum der Ausschuss getäuscht wurde. Alles muss in die Endbewertung fließen.

Es geht ja nicht nur um individuelles Fehlverhalten, es geht auch darum, was das Land getan oder nicht getan hat. Und warum.

Ja, das ist ein wesentlicher Punkt. Wir sollen ja Vorschläge machen, wie man sich gegen solche Verbrechen besser wappnen kann.

Der Thüringer Innenminister hat – als er unter Druck geraten war – alle Akten auf den Tisch gelegt. Motto: Jetzt macht, was ihr wollt, die Verantwortung bin ich los.

Sicherlich war diese Aktenlieferung an den Bundestag und an den Thüringer Ausschuss mit der Hoffnung verbunden, dass man damit dem Anspruch auf Transparenz und Aufklärung formal Genüge tut. Aber wir erfahren immer wieder, wie lückenhaft man uns informiert hat. Beispielsweise in der zentralen Frage: Wie nahe hatte das Landesamt damals Quellen am NSU? Allein die aktuell offenen Fragen zur Geheimdienstoperation »Drilling« zeigen, dass dieses Aufklärungsversprechen bislang nur plakativ erfüllt wurde. Deswegen sind wir weiterhin skeptisch und kritisch gegenüber unserer Landesregierung. Wir werden weiter nachfragen, bohren, von unseren Möglichkeiten Gebrauch machen, Akten im Landesamt einzusehen.

Wir hatten jetzt eine Phase mit hohem Arbeitsaufwand, das berichten alle Abgeordneten, auch die im Bund und in anderen Ländern. Einige Kollegen sind am Ende der Arbeit. Wir in Thüringen müssen weiterhin in Akten wühlen und Indizien suchen. Akribische Kleinarbeit kann helfen, herauszufinden, was uns noch vorenthalten worden sein könnte.

Viele Hoffnungen liegen beim Thüringer Ausschuss. Nicht nur, weil in Thüringen das Unheil seinen Anfang nahm. Andere Ausschüsse sind rein zeitlich gar nicht zu wirklich entscheidenden Antworten gelangt.

So ist es. Blicken wir mal über die Landesgrenze nach Bayern. Der Ausschuss hat seine Arbeit auch beendet und zumindest für die SPD und die Grünen steht die Frage mit Blick auf dessen sehr gutes Sondervotum, ob man nicht nach der Wahl im September einen zweiten Ausschuss einsetzen muss.

Sie kandidieren für den Bundestag. Auch dessen Ausschuss formuliert gerade seinen Abschlussbericht. Glauben Sie, dass sie auch dort die Untersuchungen weitertragen können?

Es sind noch viele Fragen offen. Zu viele! So ist der Tatortkomplex Eisenach, wo der NSU aufgeflogen ist, bislang ausgespart worden.

So, wie der vermutlich letzte NSU-Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn weitgehend ungeklärt ist ...

Es gibt aus meiner Sicht eine Fülle von Fragen, die nur angerissen sind. Das gilt insbesondere für die Rolle der Bundesbehörden, Bundesamt für Verfassungsschutz, BND und MAD. Die politische Entscheidung, wie man und ob man das Thema erneut parlamentarisch diskutiert, müssen von den kommenden Fraktionen getroffen werden, auch mit dem Sachverstand derer, die bis jetzt dort im Ausschuss waren. Zum zweiten: Die Untersuchungsausschüsse sind nur Teil einer gesellschaftlichen Aufklärung, in der kritische Medien, antifaschistische Recherche, auch die Nebenklagevertreter beim Prozess in München eine zentrale Rolle spielen. In diesem Kontext werde ich auch meine Arbeit fortführen. Egal, ob die in Thüringen stattfindet, oder Berlin.

Fragen René Heilig

* Aus: neues deutschland, Montag, 15. Juli 2013


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