"Nicht irgendwelche Unterstützungshandlungen"
Kasseler NSU-Mord: Belastende Indizien gegen früheren Geheimdienstler Temme verdichten sich. Ein Gespräch mit Alexander Kienzle *
Rechtsanwalt Alexander Kienzle vertritt mit seinen Kollegen Doris Dierbach und Thomas Bliwier die Familie des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat im Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU).
Im NSU-Prozeß hat die Nebenklagevertretung der Familie Yozgat bereits in zwei Anträgen die Rolle des früheren hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme angesprochen, der zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat am Tatort war und am selben Tag mit einem V-Mann aus der Neonaziszene telefonierte. Nach Ihrem Beweisermittlungsantrag vom 22. Oktober gibt es weitere Indizien, die Temme belasten: Mehrere potentielle Anschlagsziele auf einem Stadtplan der mutmaßlichen NSU-Terroristen lagen, soweit aus den Akten bekannt, auf seinen regelmäßigen Wegstrecken. Muß man von Beihilfe ausgehen?
Das muß man natürlich nicht – es ist eine mögliche Schlußfolgerung, die indiziell nahegelegt wird durch die Übereinstimmung seiner Fahrtstrecken mit den sogenannten Ausspähungen möglicher Tatorte durch das mutmaßliche NSU-Trio. Das ist aber nur eines von vielen Indizien, die auf eine mögliche Verstrickung des Verfassungsschützers hinweisen. Das alles hat aber bisher nicht ausgereicht, um eine wie auch immer geartete Beteiligung an den Taten, beziehungsweise konkret der Tat in Kassel, auch den Ermittlungsbehörden nahezulegen.
Was für Nachermittlungen sind möglich, außer Temme in der Zeugenbefragung darauf anzusprechen?
Wir wollen, daß die Ermittlungsbehörden sich mit dem Abgleich der Indizien befassen und Temmes Rolle erneut untersuchen, damit das Gericht über entsprechende Erkenntnisse verfügt. Danach wird es genau darauf hinauslaufen – daß er damit konfrontiert wird, wenn er vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München noch einmal als Zeuge geladen wird. Diese Verdichtung der bisher einzeln bestehenden Beweisergebnisse konnte ihm noch nicht vorgehalten werden, denn das Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt haben es bisher unterlassen, die vorhandenen Beweismittel in dieser Form auszuwerten. Außer der Befragung Temmes gibt es aber wenig Handhabe, um an weiteres Material zu kommen. Es sei denn, es ergäbe sich aus seinem beruflichen Umfeld noch ein Ermittlungsansatz. Auch sein damaliger V-Mann aus dem Umfeld der Neonazigruppe »Sturm 18 Kassel«, Benjamin Gärtner, könnte durch Angaben zu seinem elfminütigen Telefonat mit Temme unmittelbar vor der Tat Licht ins Dunkel bringen.
Temme hat vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestags und vor Gericht beteuert, er habe den Mord in Yozgats Internetcafé nicht bemerkt und die Leiche hinter der Theke nicht gesehen, als er ging. Würde ihm ein Verteidiger jetzt langsam nicht zur Aussageverweigerung raten?
Aus der Sicht eines Verteidigers mag das ratsam sein. Es wäre aber zu berücksichtigen, was es für ein Signal an Ermittlungsbehörden und Öffentlichkeit wäre, wenn sich ein Quellenführer des Landesamtes für Verfassungsschutz wegen möglicher Selbstbelastung auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach Paragraph 55 beruft. Es war aber vor seiner ersten Aussage vor Gericht unter uns Nebenklageanwälten schon umstritten, ob er das tun wird. Vor Kenntnis der neuen Ermittlungsansätze tat er es nicht – nach seiner bisherigen Erfahrung reichen ja seine Angaben aus Behördensicht, um alle gegen ihn sprechenden Indizien zu widerlegen. Nun sind wir alle hochgespannt, wie er reagieren wird.
Gericht und Bundesanwaltschaft wollen die Rolle staatlicher Akteure aus dem Prozeß heraushalten. Inwiefern ist sie tat- und schuldrelevant für die Angeklagten?
Allgemein hat ein Strafprozeß die Funktion, Genugtuung und Rechtsfrieden zu stiften. Schon unter dieser Maßgabe müssen mögliche Unterstützer und Szenepersönlichkeiten im Nahbereich der Taten berücksichtigt werden. Betreffend Temme haben wir es konkret mit jemandem zu tun, der ausweislich dieser Verdichtung relativ nah dran gewesen sein kann. Nicht nur durch seine Anwesenheit im Internetcafé, sondern auch durch die Übereinstimmung der ausgespähten möglichen weiteren Tatorte mit seinen Wegstrecken in Kassel. Das kann unmittelbar zur Aufklärung beitragen – und wir reden dann nicht über irgendwelche Unterstützungshandlungen, sondern über die Vorbereitung einer angeklagten Tat – mit Blick auf die in München angeklagten Täter und Tatbeteiligten. Für uns liegt auf der Hand, daß dies mit der Schuld- und Rechtsfolgenfrage zu tun hat.
Kann es nicht sogar zum Argument der Verteidigung werden?
Natürlich wissen auch wir, daß es ein Argument der Verteidigung sein kann, wenn staatliche Stellen in die Begehung und Vorbereitung von Straftaten, wie auch immer, verstrickt waren. Das steht aber nicht im Widerspruch zum unbedingten Aufklärungsinteresse unserer Mandanten. Die Aufklärung könnte dadurch vorangebracht werden – und müßte schon relativ weit fortgeschritten sein, wenn die Verteidigung auf dieses Argument setzt. Ihre These, daß die Anklage betreffend die Tatbeteiligung ihrer Mandanten extrem dünn sei, wäre dann ins Wanken geraten.
Interview: Claudia Wangerin
* Aus: junge Welt, Samstag, 26. Oktober 2013
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