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Gewollte Irreführung

Erst verbrennen Akten, dann Zeugen: Warum darf der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 nicht aufgeklärt werden?

Von Wolf Wetzel *

Bis heute halten Ermittler und Staatsanwaltschaft daran fest, daß der Mordanschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn im April 2007 von den beiden – mittlerweile toten – Mitgliedern der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt »ohne Mithilfe ortskundiger Dritter« verübt wurde. Das tun die Behörden, obwohl sie eine Tatbeteiligung des Duos nicht nachweisen können. Fakt hingegen ist, daß die Spuren und Hinweise, die es zuhauf gibt, zu anderen neonazistischen Tätern führen.

Warum wird seit sechs Jahren diesen Spuren nicht gefolgt? Will man Täter schützen, die noch leben? Muß man sie schützen, weil diese Täter Verbindungen zu staatlichen Behörden bloßlegen können, die unter allen Umständen geheimgehalten werden müssen?

Tod auf dem Wasen

Am 16. September 2013 leiht sich Florian H. das Auto seines Vaters. Er hat einen Termin um 17 Uhr beim Landes­kriminalamt (LKA) in Stuttgart. Dort soll er weitere Aussagen zum Mordfall Heilbronn machen. Er wohnt im Landkreis Heilbronn und fährt über die Autobahn nach Stuttgart. Er legt zirka 50 Kilometer zurück, ist fast am Ziel. Anstatt die eineinhalb Kilometer zum LKA in der Taubenstraße 85 zu fahren, hält er auf dem Cannstatter Wasen an, »auf der Zufahrt zum dortigen Campingplatz – einem Ort, an dem sich die der Zwickauer Terrorzelle zugerechneten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos aufgehalten hatten«, wie Thomas Moser in Kontext feststellt (25.9.2013).

Dort parkt er sein Auto und geht weg. Zeugen zufolge kam es zu einer Explosion, »kurz nachdem der Mann nahe dem Cannstatter Wasen in Stuttgart in sein Auto eingestiegen war«, schreibt die Berliner Zeitung (1.10.2913). »Erst danach habe das Fahrzeug Feuer gefangen und sei ausgebrannt, sagen diese Zeugen.« Bild veröffentlichte ein Tatortbild: Auf diesem sieht man Florian H. nach hinten gebeugt, fast überstreckt. Der Körper ist eng an die Rückenlehne des Fahrersitzes gepreßt. Eine Körperhaltung, die ein Toter einnimmt, wenn er von Gurten gehalten wird – wenn eine Person angeschnallt ist. Ob diese Annahme berechtigt ist, wäre recht leicht zu überprüfen: Neben der Boulevardpresse müssen nicht zuletzt Feuerwehr und Polizei in Besitz zahlreicher Tatortfotos sein.

So langwierig eine Spurensuche und vor allem eine Spurenauswertung auch – normalerweise – ist: Der Pressesprecher im Innenministerium Rüdiger Felber präsentiert schnell das Ergebnis: »Wie bei jedem anderen Suizid wurde auch hier gewissenhaft geprüft, ob eine Fremdeinwirkung vorliegen könnte. Das ist eindeutig zu verneinen.« Auch das Motiv ist rasch erkannt: Florian H. habe »wegen Beziehungsproblemen« Selbstmord begangen.

Man muß kein »Tatort«-Fan sein, um über zahlreiche Ungereimtheiten zu stolpern, denen erst nachgegangen werden müßte, bevor man ein Ermittlungsergebnis festschreibt. Warum handelt Florian H. erst genau wie ein Zeuge, der zu einem Vorladungstermin erscheinen will, um im letzten Moment aus Liebeskummer Selbstmord zu begehen? Welchen Grund hatte die Unterbrechung auf dem Canstatter Wasen? Warum hält er direkt vor dem Campingplatz, wo auch NSU-Mitglieder 2007 ihren Campingwagen abgestellt hatten? Was hat die Auswertung der Handydaten von Florian H. ergeben?

Wenn die Zeugenaussagen zutreffen, dann liegt der Verdacht nahe, daß Florian H. nicht Selbstmord begangen hat, sondern Opfer eines (zwischenzeitlich) manipulierten Autos geworden ist. Wenn das Bild-Foto die Möglichkeit nahelegt, daß Florian H. angeschnallt war, als sich die Explosion ereignete, dann wollte Florian H. nicht sterben, sondern seine Fahrt fortsetzen.

Erwünschte Selbstmorde

Es gibt »Selbstmorde«, die sich vor allem jene herbeiwünschen, die berechtigte Angst vor dem haben, wofür sich die Lebenden entschieden hatten, nämlich Aussagen zu machen. Wie der Rechte Heinz Lembke, Mitglied der NATO-Geheimtruppe »Gladio«, der Aussagen zu dem neonazistischen Mordanschlag auf das Oktoberfest in München 1980 machen wollte und sich tags zuvor, am 1. November 1981, in der Zelle erhängte …

Obwohl weder Ort und Zeit, noch die erklärte Absicht des Opfers einen Selbstmord plausibel machen, ist das Ermittlungsergebnis der baden-württembergischen Polizei in Stein gemeißelt. Ein Ergebnis, das so schnell feststeht wie bei den vorangegangenen NSU-Morden, bei denen in atemberaubender Geschwindigkeit, also faktenfrei, ausgeschlossen wurde, daß es sich um neonazistische Verbrechen handelte.

Florian H. ist ein Neonazi und den Ermittlungsbehörden seit Langem bekannt. Bereits im Januar 2012 hat er Aussagen gemacht. In dieser Vernehmung gab er an, daß es neben dem NSU noch eine weitere neonazistische Terrorgruppe gibt. Ihr Name: »Neoschutzstaffel«, kurz NSS: »Diese NSS sei von H. als ›zweite radikalste Gruppe‹ neben dem NSU bezeichnet worden. Den Aussagen des Zeugen zufolge hätten sich auch Aktivisten beider Gruppierungen einmal in Öhringen, etwa 25 Kilometer östlich von Heilbronn gelegen, getroffen.« (Berliner Zeitung, 1.10.2013)

Daß diese Verbindungen nicht aus der Luft gegriffen sind, belegt auch eine sichergestellte SMS auf dem Handy von Beate Zschäpe: Dazu noch einmal Kontext: »Im Oktober 2011 erhielt Zschäpe eine SMS von einem Handy, das in Stuttgart zugelassen war. Ein Mitläufer der rechten Szene soll ein gemeinsames Treffen von NSU und einer Gruppierung namens ›Neoschutzstaffel‹ (NSS) in Öhringen erwähnt haben.«

Die Ermittlungsbehörden ordneten diese Aussagen dennoch als zu vage und nicht verifizierbar ein. Wenn man weiß, daß dieselben Ermittlungsbehörden 13 Jahre zahlreiche Spuren für wertlos und irrelevant erklärten, weil sie ihre »Aufklärung« störten, kann und muß man auch in diesem Fall von einer gewollten Irreführung ausgehen.

Selbstverständlich wissen die Ermittler heute mehr denn je: Würde ein Zeuge, ein nicht mehr aus der Welt zu schaffender Beweis, belegen, daß der NSU noch nie aus nur drei Mitgliedern bestand, daß der Mordanschlag auf die Polizisten in Heilbronn von weiteren Neonazis begangen wurde, würde nicht nur die Fiktion vom »Zwickauer Terrortrio« in sich zusammenstürzen, sondern auch die Anklage im Münchner NSU-Prozeß.

Phantombilder

Wie bereits erwähnt, gibt es keinen Beweis für eine direkte Beteiligung von Mundlos und Böhnhardt bei der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetters. Das wissen alle beteiligten Behörden. Zur Irreführung müssen alle Indizien, die zu anderen, weiteren neonazistischen Tätern führen, beseitigt bzw. entwertet werden. Zweifelsfrei kann man diese Strategie am Beispiel der zahlreichen Phantombilder nachweisen, die mit Hilfe des schwer verletzten Polizisten Martin Arnold und anderer Zeugen erstellt wurden. Kein einziges ähnelt den bekannten NSU-Mitgliedern. Das ist kein Geheimnis. Schlimm, um nicht zu sagen suizidal wäre es jedoch, wenn man mit diesen Phantombildern nach den wahren Tätern fahnden würde. Genau dies wurde von der Staatsanwaltschaft unterbunden. Warum?

Niemand verzichtet ohne Not auf Hilfsmittel, die einen Mordanschlag aufklären können – schon gar nicht, wenn es um Polizisten geht. Wenn man davon vorsätzlich keinen Gebrauch macht, weiß man um das Ergebnis. Und genau dies ist im Fall der Phantombilder geschehen.

In Heilbronn, rund um die Theresienwiese gab es nicht nur das besagte Polizeiauto, x-Täter und eine Anzahl von Zeugen. Trotz vorsätzlicher Falschaussagen des Innenministeriums, zur Tatzeit wären keine V-Leute in Tatortnähe gewesen, ist der Stand heute ein ganz anderer (siehe Spalte). Ein damals angefertigtes Phantombild dürfte der Polizei bzw. dem Verfassungsschutz alles andere als unbekannt vorkommen: Es ähnelt in hohem Maße Alexander Neidlein aus Crailsheim. In den 90er Jahren war er Söldner der faschistischen kroatischen HOS Miliz in Bosnien. Danach hatte er enge Kontakte zu führenden Ku-Klux-Klan-Mitgliedern in Südafrika. Wegen zweifachen Mordversuchs an südafrikanischen Polizeibeamten saß er in Auslieferungshaft. Ein für Geheimdienste idealer Zeitpunkt, einen Faschisten anzuwerben. Von 1998 bis 2000 war Neidlein »Stützpunktleiter« der Jungen Nationaldemokraten/JN im baden-württembergischen Schwäbisch Hall/Ostalb. 2003 wurde er zum Landesvorsitzenden der JN, 2004 zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der JN gewählt. Kurzum, eine neonazistische Bilderbuchkarriere.

Ob sich das Phantombild mit dem heutigen NPD-Funktionär Alexander Neidlein deckt, ob sich dieser Neonazi mit drei weiteren Kameraden am Mordtag auf der Theresienwiese aufgehalten hat, ob das Ganze mit einer V-Mann-Tätigkeit einherging, werden am allerwenigsten die Ermittlungstätigkeiten der zuständigen Behörden ergeben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Oktober 2013


V-Leute in Tatortnähe

Von Wolf Wetzel **

Als am 25. April 2007 die Polizeivollzugsbeamtin Michèle Kiesewetter (22) in Heilbronn mit einem gezielten Kopfschuß getötet und ihr 24jähriger Kollege Martin A. mit einem Kopfschuß lebensgefährlich verletzt wurde, waren mehrere Geheimdienstmitarbeiter in Tatortortnähe. »Offenbar wimmelte es am Mordtag nur so von V-Leuten in Heilbronn. Insgesamt haben sich mindestens fünf Informanten von Polizei und Verfassungsschutz sowie mindestens ein LfV-Führer um den bis heute ungeklärten Mordfall herum bewegt«, bilanzierte Thomas Moser in der Onlinewochenzeitung Kontext (25.9.2013)

»Ein Zeuge, der kurz nach den Schüssen auf die zwei Beamten in Heilbronn einen blutverschmierten Mann gesehen hat, war ein V-Mann der Polizeidirektion Heilbronn. (…) Der Zeuge hielt sich wenige hundert Meter vom Tatort Theresienwiese auf. Er gab an, ein Mann sei direkt vor ihm in ein Auto mit laufendem Motor gesprungen. Der rechte Arm des Mannes soll voller Blutflecken gewesen sein. Auch auf seinem T-Shirt soll vorne rechts Blut zu sehen gewesen sein. Der Fahrer des Autos soll ›dawei, dawei‹ gerufen haben (Russisch für ›schnell, schnell‹). Das Auto sei mit quietschenden Reifen davongefahren. Der Zeuge meldete sich am selben Tag bei der Polizei. Die erstellte zwei Tage später ein Phantombild. Es ist Bild 9 der insgesamt 14 Fahndungsbilder, die Kontext in der Ausgabe 120 Mitte Juli 2013 veröffentlichte.«

Der V-Mann der Polizei wird als »V-Person 1749« geführt. Neben diesem gab es zwei weitere V-Personen der Heilbronner Polizei, die zeitlich und räumlich in der Nähe des Tatorts gewesen sein müssen, ergeben die Recherchen des Magazins weiter. »Aus dem Umfeld des baden-württembergischen Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) erfährt Kontext, daß eines der Phantombilder einem früheren Informanten verblüffend ähnlich sehe. Es ist das Phantombild Nummer 8. Es zeigt einen Mann, der etwa eine Stunde vor dem Anschlag zusammen mit drei anderen Männern am Rand des Festplatzes Theresienwiese im Gras saß. Das Innenministerium will Fragen dazu nicht beantworten. Einsätze einzelner Vertrauenspersonen würden ›grundsätzlich weder bestätigt noch dementiert‹ werden.«

Jenes Phantombild Nr. 8 ähnelt in hohem Maße dem polizeibekannten Neonazi Alexander Neidlein ...

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Oktober 2013


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