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Deutsche Nachbaridylle

Als das NSU-Versteck brannte, befand sich eine 89 Jahre alte Frau im Haus. Beate Zschäpe könnte damit auch einen Mordversuch begangen haben

Von Sebastian Carlens, München *

Die Siedlung in der Zwickauer Frühlingsstraße ist eine ruhige, normale Wohngegend. Die Nachbarn grüßen sich und helfen einander. Die Terroristen des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) haben sich für ihr letztes Versteck, das sie im Jahr 2007 bezogen, eine intakte, unauffällige Nachbarschaft ausgesucht.

Über vier Jahre später, am 4. November 2011, explodierte die Idylle. Beate Zschäpe soll, so die Anklage vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG), die konspirative Bleibe angezündet haben, nachdem ihre beiden Komplizen nach einem Bankraub in Eisenach Selbstmord begangen haben sollen. Zu schwerer Brandstiftung kommt laut Anklage noch versuchter Mord hinzu. Denn im selben Gebäude, Wand an Wand mit dem NSU, lebte eine damals 89 Jahre alte, gehbehinderte Frau. Am Dienstag, dem 29. Verhandlungstag vor dem OLG, wurden zwei Nichten und eine Urgroßnichte der einstigen Nachbarin Zschäpes befragt. Sie hatten das Feuer gegen 15 Uhr entdeckt, die Feuerwehr alarmiert und ihre betagte Tante aus der Wohnung im brennenden Haus gerettet.

Direkt gegenüber, in Sichtweite des damaligen NSU-Verstecks, lebt ihre Nichte, eine resolute 64jährige Rentnerin. Ein »dumpfer Knall, wie wenn zwei Autos gegeneinanderfahren«, ließ sie an jenem Tag hochschrecken: Aus dem Nachbargebäude war eine Wand geborsten, die Wohnung Zschäpes stand in Flammen. Mit ihren beiden Katzen im Gepäck flüchtete die mutmaßliche Rechtsterroristin über die Straße. Die alte Tante, die ihre Wohnung nicht mehr ohne Hilfe verlassen konnte, wurde telefonisch alarmiert, schien allerdings nicht sofort begriffen zu haben, wie ernst die Lage war. Sie schaute zunächst aus dem Fenster, bevor die beiden Schwestern ihre Tante aus dem Haus holten. »Von einem Tag auf den anderen ist sie mit 89 Jahren obdachlos geworden«, berichtete die Zeugin nun vor Gericht. Bis heute habe sich die alte Frau nicht erholt. »Sie hat seitdem alle Energie verloren«, so ihre Nichte. Beate Zschäpe sitzt während der Aussage ganz dicht vor ihrem Laptop, rückt immer näher an den Monitor.

Nett und freundlich sei Zschäpe gewesen, habe stets gegrüßt und ein »gewisses Mitteilungsbedürfnis« gehabt. Mit ihrer Schwester, ebenfalls Katzenliebhaberin, habe sie auch »mal über Katzen geredet«, so die Zeugin. Ärger in der Nachbarschaft gab es nicht, nur die großen Wohnmobile, die gelegentlich vor dem Haus parkten, hätten den Unmut der Nachbarn erregt. Ab und an habe des Nachts eine kleine rote Lampe im Fenster geleuchtet – Stoff für Tratsch in der Nachbarschaft: »Vielleicht arbeitet sie in einem ganz anderen Bereich, der eine ist fertig, der nächste kann kommen?«, so die Zeugin. Das sei natürlich nur Gerede gewesen.

Wenn Beate Zschäpe nachgewiesen werden kann, den Tod ihrer Nachbarin zur Vertuschung von Spuren in Kauf genommen zu haben, könnte dies als Mordversuch gewertet werden. Der Brand in der Frühlingsstraße scheint bislang die einzige Tat zu sein, die ihr direkt nachgewiesen werden kann. Zschäpe, die mutmaßliche Brandstifterin, war in dieser Straße gut integriert. Stets zu einem freundlichen Wort bereit, kümmerte sie sich, neben ihren eigenen Tieren, auch noch um einen herrenlosen Kater. Selbst wenn das Neonazi-Trio in den Urlaub fuhr, soll das Tier mit Futter bedacht worden sein. In einem Keller in der Nachbarschaft trafen sich gelegentlich einige Anwohner zum geselligen Feierabendbier, auch Zschäpe war manchmal dabei. Olaf B., Besitzer des Kellers, hatte dort ein Porträt von Adolf Hitler aufgestellt. Wäre der Bankraub in Eisenach nicht schiefgegangen, hätte Zschäpe nicht die Wohnung angezündet – sie könnte heute noch dort leben, ruhig, unauffällig und gut integriert in einer ganz normalen Nachbarschaft.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 31. Juli 2013


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