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Zeuge Temme im Visier

NSU-Prozeß. Nebenklage stellt neue Beweisanträge zur Rolle von Verfassungsschützer und dessen Vorgesetzten

Von Claudia Wangerin, München *

Ein Szenezeuge meldete sich krank, ein weiterer wollte sich doch lieber erst einen Anwalt besorgen – so rückten am Mittwoch, dem 55. Verhandlungstag im NSU-Prozeß, die Beweisanträge der Nebenklage zur Rolle eines Geheimdienstmannes in den Mittelpunkt. Andreas Temme hat im Prozeß um die dem »Nationalsozialistischen Untergrund« angelastete Mord- und Anschlagsserie den Status eines Zeugen. Im ersten Teil seiner Vernehmung vor dem Oberlandesgericht München hatte der frühere »Quellenführer« des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Anfang Oktober mehrere Fragen offengelassen. Die Anwälte der Familie von Halit Yozgat, bei dessen Ermordung der Beamte am Tatort war, erinnerten gestern mit mehreren Beweisanträgen an seine Zeit als Beschuldigter.

Unter anderem fordern die Nebenklagevertreter, einen Verfassungsschutzmitarbeiter als Zeugen zu laden, der am 9. Mai 2006 ein Telefongespräch mit Temme geführt hatte. Es wurde von den Mordermittlern aufgezeichnet. Dieser Hess, zuständig für Geheimschutz, soll Temme dabei geraten haben, bei seinen Vernehmungen so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Dies heißt nichts anderes, als daß die Lüge aus Opportunitätsgründen ebenfalls als ratsam erachtet wird«, heißt es im Antrag der Anwälte Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle. Außerdem wollen sie die Teilnehmer einer Besprechung mit Verfassungsschützern und polizeilichen Ermittlern als Zeugen laden, zu der Staatsanwalt Dr. Wied seinerzeit unter anderem Hess eingeladen hatte. Die Polizei hatte sich um dieses Gespräch bemüht, um Auskunft über das Arbeitsfeld des Beschuldigten Temme und seine V-Leute zu erhalten. Hess hatte den Ermittlern eine deutliche Abfuhr erteilt. Außerdem soll nach dem Willen der Nebenkläger eine Sperrerklärung des hessischen Innenministeriums zum Komplex Temme vor Gericht verlesen werden.

Neuerlich – und gemeinsam mit den Anwälten der Familie des NSU-Mordopfers Mehmet Kubasik – beantragte die Nebenklagevertretung Yozgat am Mittwoch die Beiziehung der Akten zum damaligen Ermittlungsverfahren gegen Temme. Sie befänden sich beim Generalbundesanwalt und lägen dem Senat bislang nicht vor. Den Anträgen schlossen sich zahlreiche weitere Nebenklagevertreter, aber auch die Verteidiger der Angeklagten Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben an.

Eigentlich sollte am Mittwoch der Verkäufer der Ceska-83-Pistole aussagen, mit der in den Jahren 2000 bis 2006 neun Menschen vom NSU ermordet wurden. Der frühere Mitinhaber des Jenaer Szeneladens »Madley«, Andreas Schultz, erschien auch vor Gericht, erklärte aber auf Anregung eines Verteidigers, er wolle sich vor seiner Aussage mit einem Anwalt besprechen, er habe aber noch keinen. Seine Vernehmung wurde daher vertagt. Rechtsanwalt Olaf Klemke, der den Mitangeklagten Ralf Wohlleben vertritt, hatte zunächst das Gericht aufgefordert, den Zeugen zu belehren, daß ihm ein umfassendes Schweigerecht zustehe, da es um einen Anfangsverdacht auf Beihilfe zum Mord gehen könne. Das Aussageverweigerungsrecht greife bereits weit im Vorfeld einer direkten Belastung, es reiche schon die Möglichkeit aus, daß es zu einem Ermittlungsverfahren kommen könnte, so Klemke. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten zeigte sich »überrascht«, daß ausgerechnet der Verteidiger Wohllebens »den Anfangsverdacht einer Beihilfe zum Mord geradezu herbeiredet«. Wohlleben soll als Organisator eines Kuriersystems für das mutmaßliche NSU-Kerntrio maßgeblich an der Waffenbeschaffung beteiligt gewesen sein und steht wegen Beihilfe vor Gericht. Nach der Belehrung wollte sich Schultz, der den Verkauf der Ceska »unter dem Ladentisch« bereits der Polizei gestanden hat, zunächst einen Anwalt besorgen. Weil das Geschäft 1999 oder 2000 abgewickelt worden sein soll, wäre ein einfacher Verstoß gegen das Waffengesetz heute verjährt – nicht aber die Beihilfe zu einem Tötungsdelikt, was entsprechendes Wissen voraussetzt. Laut Polizeiprotokoll soll Schultz aber ausgesagt haben, die Waffe sei ausdrücklich mit Schalldämpfer bestellt worden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 14. November 2013


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