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"Klein Adolf" vor Gericht

Im Münchner NSU-Prozeß wird der frühere hessische Verfassungsschützer Andreas Temme befragt. Nebenklage und Verteidigung dürften an ihn viele Fragen haben

Von Claudia Wangerin *

Neben dem Mord an der Polizistin Michéle Kiesewetter gilt der an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel als rätselhaftester Fall in der Serie von Verbrechen, die inzwischen der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) zugeordnet werden. Denn der damals 21jährige wurde in Anwesenheit eines Verfassungsschutzbeamten erschossen, der sich daraufhin nicht als Zeuge bei der Polizei meldete. Andreas Temme hatte angeblich nur aus privaten Gründen das Internetcafé aufgesucht, das Halit Yozgat mit Unterstützung seiner Eltern in der Holländischen Straße 82 eröffnet hatte. Seine Frau, so rechtfertigte sich Temme später, sollte nichts von erotischen Chatbekanntschaften erfahren, die er von dort aus pflegte. Angeblich sah und hörte der Mitarbeiter des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) nichts, als zweimal auf den jungen Mann hinter der Theke geschossen wurde. Andere Besucher des Internetcafés hatten sehr wohl Knallgeräusche wahrgenommen, die sie nur nicht als Schüsse zuordnen konnten. Nicht ungewöhnlich bei Verwendung eines Schalldämpfers.

Obwohl Sportschütze, will Temme die Geräusche nicht bemerkt und den Schmauch nicht gerochen haben. Und den Sterbenden hinter der Theke habe er nicht gesehen, als er das Café verließ. Bei dieser Version wird er wohl auch bleiben wollen, wenn er am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München vernommen wird – als Zeuge im Prozeß gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und vier mögliche Helfer. Vor gut einem Jahr wurde Temme bereits im Untersuchungsausschuß des Bundestags zur NSU-Mordserie befragt. Dort wurde ihm die Aussage des damaligen Leiters der polizeilichen Sonderkommission vorgehalten, er müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas gehört oder gesehen haben. Hessens damaliger Innenminister Volker Bouffier (CDU) hatte direkte Fragen der Polizei an den Verfassungsschützer unterbunden, von dem später bekannt wurde, er habe wegen seiner mutmaßlichen Affinität zu rechtem Gedankengut im Bekanntenkreis den Spitznamen »Klein Adolf« getragen.

Wenige Tage nach dem Mord war Temme festgenommen worden und galt zunächst als Hauptverdächtiger. Im Jahr darauf kam es zum Freispruch aus Mangel an Beweisen. Das LfV unter dem damaligen Präsidenten Lutz Irrgang hatte den Ermittlern einen Korb gegeben, als sie um die Vernehmung eines V-Mannes aus dem Umfeld der Neonazigruppe »Sturm 18« in Kassel baten, mit dem Temme am Tag des Mordes telefoniert hatte. Man müsse ja sonst nur eine Leiche in der Nähe eines V-Mannes oder V-Mann-Führers positionieren, um den Geheimdienst lahmzulegen, argumentierte der Verfassungsschutz.

Im Münchner NSU-Prozeß ließen die Angehörigen von Halit Yozgat bereits durch ihre Nebenklagevertreter erklären, daß es ihnen »nicht um ein bestimmtes Strafmaß im Falle einer Verurteilung geht, sondern vor allem darum aufzuklären, warum die angeklagten Taten in dieser Weise geschehen konnten und auch, welchen Anteil staatliche Stellen daran haben«.

Mehr als 70 Anwälte von Nebenklägern – darunter Angehörige der zehn Mordopfer sowie Verletzte der beiden bisher bekannten Sprengstoffanschläge des NSU – könnten Fragen an Andreas Temme haben. Aber auch die Verteidiger der fünf Angeklagten dürften sich für seine genaue Rolle interessieren – denn zumindest für das Strafmaß kann es von Bedeutung sein, ob staatliche Stellen die angeklagten Taten durch rechtzeitiges Eingreifen hätten verhindern können – oder ob sie sie erst ermöglicht haben. Einige der Fragen, die jetzt auf ihn zukommen, sind Andreas Temme vielleicht in anderen Vernehmungen noch nicht gestellt worden.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. September 2013Bau- und


Grabungsarbeiten in Dortmund

Im NSU-Prozeß soll heute eine Zeugin aussagen, die Beate Zschäpe in der Nähe eines Tatorts gesehen haben will

Von Claudia Wangerin **


Die Zeugin Veronika von A. ist ungewöhnlich kurzfristig ins Programm genommen worden: Erst am 19. September stellte eine Anwältin der Nebenklage im Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) den Beweisantrag. Bereits am heutigen Montag soll die Frau vor dem Oberlandesgericht München vernommen werden. Veronika von A. will die Hauptangeklagte Beate Zschäpe Anfang April 2006 in Dortmund gesehen haben – also in zeitlicher und räumlicher Nähe zum Mord an dem Kioskbesitzer Mehmet Kubasik, der am 4. April des Jahres in der Stadt erschossen wurde. Zschäpe – sofern keine Verwechlung vorliegt – soll in Begleitung ihrer mutmaßlichen Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewesen sein. Ein weiterer Mann mit dem Aussehen eines »bulligen Skinheads« soll dem Trio in Dortmund das damalige Nachbargrundstück der Zeugin am Brackeler Hellweg 58 gezeigt haben – etwa sieben Kilometer vom Tatort in der Mallinckrodtstraße 190 entfernt. Für kurze Zeit soll zu dem Treffen noch eine fünfte Person dazugekommen sein – ein deutlich jüngerer Mann von schmaler Statur.

Soweit bekannt, wohnte Zschäpe damals mit Mundlos und Böhnhardt im sächsischen Zwickau. Die Bundesanwaltschaft ging bisher davon aus, daß sie die Morde gleichberechtigt mit ihnen plante, aber nicht mit ihnen zu den Tatorten reiste.

Veronika von A. wird wohl auch die Frage beantworten müssen, warum sie sich nach Bekanntwerden des NSU im November 2011 nicht früher bei der Polizei meldete – Angst wäre ein mögliches Motiv. Als zeitlichen Gedächtnisanker für ihre Beobachtung gibt die Zeugin an, sie habe damals einen Möbelwagen bestellt und sei anschließend mit Sortierarbeiten im Haus beschäftigt gewesen. Bei dieser Gelegenheit habe sie die Personen durch das Dachgeschoßfenster sehen können. Der »bullige Skinhead« soll rund ein Jahr zuvor Grabungsarbeiten auf dem Grundstück durchgeführt haben – zum Teil nachts. Außerdem seien dann Spielgeräte für Kinder aufgestellt worden.

Über eine Verwechslung wurde bereits am vergangenen Donnerstag öffentlich spekuliert: Ein früherer Nachbar der 63jährigen Zeugin soll den Ermittlern gegenüber eingeräumt haben, daß er zur fraglichen Zeit wie ein Skinhead ausgesehen und manchmal auch die von ihr beschriebenen Armeehosen getragen habe, berichtete der ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt. Die Frau dieses Nachbarn sei nach dessen Worten selbst der Meinung, daß sie Zschäpe ähnlich sehe.

Allerdings wohnte Veronika von A. noch gut zwei weitere Jahre im selben Haus – bis Juni 2008. Auch die fraglichen Nachbarn dürften nicht vorgehabt haben, gleich wieder wegzuziehen, denn der Mann soll die Grabungsarbeiten im Frühjahr 2005 mit dem Anlegen eines Gartenteichs erklärt haben. Die Zeugin konnte das Paar also mit hoher Wahrscheinlichkeit noch öfter bei Tageslicht sehen, ordnet es aber bis heute nicht ihrer damaligen Nachbarschaft zu. Veronika von A. hat ihre Erinnerungen bereits detailliert einem Oberstaatsanwalt der Bundesanwaltschaft und zwei Mitarbeitern des Bundeskriminalamts (BKA) beschrieben. Wer seinerzeit am Aufstellen der Spielgeräte beteiligt war, dazu soll das BKA auch schon den Hausmeister vernommen haben.

Mitarbeiter einer Baufirma, die angeblich niemand beauftragt hat, sorgten unterdessen auf einer Baustelle des Kopp-Verlags in Rottenburg am Neckar für Wirbel. Nach Berichten des Schwarzwälder Boten am 19. und 20. September soll dort ein Unternehmen mit dem Namen »Chaosbau« mitgearbeitet haben, das unter Regie des Neonazis André Kapke – abgekürzt als André K. – geführt werde. Dieser gilt als Jugendfreund des mutmaßlichen NSU-Kerntrios. Jochen Kopp und die von ihm beauftragte Baufirma Baresel dementieren allerdings, das Unternehmen beauftragt zu haben. Hinweise in sozialen Netzwerken auf eine Anwesenheit auf der Baustelle sollen inzwischen gelöscht worden sein. Laut Facebookprofil wurde »Chaosbau« im Novemver 2011 gegründet – wenige Tage nach Aufdeckung des NSU. Kopp, dessen Verlagsprogramm als esoterisch bis mindestens rechtsoffen beschrieben werden kann, hat bereits Strafanzeige wegen mutmaßlichen Hausfriedensbruchs gestellt.

** Aus: junge Welt, Montag, 30. September 2013


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