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Wende im NSU-Prozeß?

Neue Zeugin will Hauptangeklagte Zschäpe in Tatortnähe gesehen haben – in Begleitung ihrer mutmaßlichen Komplizen und eines bisher unbekannten Mannes

Von Claudia Wangerin *

Eine bisher unbekannte Zeugin könnte eine spektakuläre Wende in den Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie der Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) bringen. Stimmen die Angaben der Dortmunderin, deren Vernehmung die Nebenklageanwältin Doris Dierbach am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht München beantragte, dann war die Hauptangeklagte Beate Zschäpe unmittelbar vor dem Mord an dem Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in Tatortnähe – was bisher in keinem einzigen der zehn Mordfälle beweisbar schien. Zschäpe soll zudem nicht nur in Begleitung ihrer bisher bekannten Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewesen sein. Ein weiterer Mann mit dem Aussehen eines »bulligen Skinheads« soll Anfang April 2006 mit dem mutmaßlichen NSU-Kerntrio aus Zwickau auf dem besagten Grundstück in Dortmund gesehen worden sein. Die Zeugin, eine Anwohnerin, will Böhnhardt und Mundlos auf den Fotos, die im November 2011 nach ihrem mutmaßlichen Selbstmord durch die Presse gingen, sofort wiedererkannt haben – und wenig später auch Beate Zschäpe, nach Lesart der Bundesanwaltschaft gleichberechtigte Planerin und einzige Überlebende des NSU. Nur drei Personen, wohnhaft in Sachsen, und wenige Helfer sollen dazugehört haben. Als solche gelten die vier Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten S. »Bullig« wirkt keiner von ihnen.

Doris Dierbach hält aber den vierten Mann, den die Zeugin mit Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in zeitlicher und örtlicher Nähe zum Mord an Mehmet Kubasik im tiefsten Westdeutschland gesehen haben will, ohnehin für keinen der bisher Beschuldigten. Nach Aussage der Zeugin hat er dem Trio das Grundstück gezeigt. Dies belege Verbindungen zur örtlichen Neonazi­szene, so Dierbach. Mehrere Nebenklagevertreter schlossen sich dem Beweisantrag an.

Warum sich die Zeugin nicht früher gemeldet habe und wie sie mit der Nebenklage in Kontakt getreten sei, wollte Dierbach am Donnerstag nicht sagen. Die Zeugin werde sich selbst in der Hauptverhandlung dazu äußern, erklärte die Anwältin. Den Verdacht, daß örtliche Neonazis die Opfer auswählen halfen, äußerten Nebenklagevertreter und Mitglieder des bayerischen Untersuchungsausschusses auch mit Blick auf die NSU-Morde in Nürnberg und München.

Der Befangenheitsantrag, den die Anwälte der mutmaßlichen Neonaziterroristin Zschäpe am Dienstag gegen sämtliche Mitglieder des 6. Strafsenats gestellt hatten, war am Donnerstag kein Thema mehr. »Ich gehe davon aus, daß Ihnen die Entscheidungen über die Ablehnungsgesuche vorliegen«, hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl den Prozeßbeteiligten gleich nach der Anwesenheitsfeststellung gesagt – und mit den Zeugenvernehmungen begonnen.

Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl hatte den für die zeitaufwendige Prozeßvorbereitung zu geringen Vorschuß von 5000 Euro moniert – so dränge sich der Eindruck auf, die Verteidigung solle durch »Kurzhalten« diszipliniert werden. Die Anwälte des mit­angeklagten Neonazis Ralf Wohlleben hatten sich dem Befangenheitsantrag gegen das Senatsmitglied Konstantin Kuchenbauer angeschlossen, weil der Richter in der Begründung ausgeführt hatte, ein von zunächst 3000 auf 5000 Euro erhöhter Vorschuß sei »im Hinblick auf die tatsächlichen Probleme des Tatnachweises« gerechtfertigt. Damit lege sich Kuchenbauer bereits auf die Täterschaft der Angeklagten fest, für die nur noch der Nachweis erbracht werden müsse, so Wohlleben-Anwalt Olaf Klemke. Das Gericht lehnte die Anträge ab.

Weil der gesamte 6. Strafsenat vom Antrag betroffen war, mußte ein anderer Senat darüber entscheiden. Die Verhandlung war deshalb für einen Tag unterbrochen worden, die ursprünglich für Mittwoch geplanten Aussagen der Witwe und der Tochter von Mehmet Kubasik mußten verschoben werden. Am Donnerstag schilderten Polizeibeamte, wie sie den Erschossenen aufgefunden hatten. Zuvor hatten Zwickauer Nachbarn von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zum Brand in deren gemeinsamer Wohnung ausgesagt, den sie gelegt haben soll, um Beweismittel zu vernichten. Am Ende des Verhandlungstags erklärte sich der Angeklagte Carsten S. bereit, die Fragen der Verteidigung des von ihm schwer belasteten Wohlleben zu beantworten. Dies hatte er im Frühsommer zunächst an die Bedingung geknüpft, daß auch Wohlleben umfassend zur Person und zur Sache aussagen solle.

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. September 2013


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