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Geduldig für Aufklärung

Ein Jahr NSU-Prozeß: Angehörige der Opfer zeigen Stärke. Beweisaufnahme zu Bombenanschlägen steht noch bevor. Auch Ex-V-Mann Tino Brandt wurde noch nicht vernommen

Von Claudia Wangerin *

Zeugen zu zehn Morden wurden bereits gehört, die Beweisaufnahme zu zwei Sprengstoffanschlägen, die in der Anklageschrift erfaßt sind, soll im Juni beginnen – ein weiterer Verdachtsfall kam erst während der Hauptverhandlung ans Licht: Der Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) begann heute vor einem Jahr. Ob dies schon die Halbzeit ist, wird von Verfahrensbeteiligten ernsthaft bezweifelt. Die ursprüngliche Planung sah für die Vernehmung einzelner Zeugen viel zu wenig Zeit vor, um der hohen Zahl Geschädigter und den Fragen ihrer Nebenklagevertreter gerecht zu werden. Viele mußten daher noch ein zweites oder drittes Mal geladen werden. Dadurch scheint die Reihenfolge der juristischen Aufarbeitung einer siebenjährigen Mord- und Anschlagsserie heillos durcheinandergeraten zu sein. So sollen heute zwei Polizeibeamte zu den tödlichen Schüssen auf den Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in Dortmund im Jahr 2006 aussagen, nachdem dessen Angehörige bereits im November 2013 gehört worden waren.

Zeitsprünge

Dazwischen befaßte sich das Oberlandesgericht München sowohl mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn als auch mit der Frühgeschichte der rechten Terrorgruppe in der Thüringer Neonaziszene Ende der 1990er Jahre. Es vernahm Zeugen zur Ermordung von Halit Yozgat in Kassel, der nur wenige Tage nach Kubasik erschossen worden war, und befaßte sich mit dem Weg der Tatwaffe der rassistischen Mordserie. Nicht zu vergessen der finale Brand in der Zwickauer Wohngemeinschaft der mutmaßlichen Haupttäter, den die Angeklagte Beate Zschäpe im November 2011 legte, um Spuren zu verwischen, nachdem ihre Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sich nach einem Banküberfall in Eisenach selbst erschossen haben sollen. Die Brandstiftung durch Zschäpe läßt sich am leichtesten mit klassischen kriminalistischen Methoden beweisen – sie ist auch der einzige Tatvorwurf, den ihre Verteidiger indirekt anerkannt haben, da sie in ihren Beweisanträgen bemüht waren, den darin enthaltenen Mordversuch an einer Nachbarin zu widerlegen, ohne die Brandstiftung als solche in Zweifel zu ziehen. Bei allen anderen Taten gilt Zschäpe in der Anklageschrift als planerische Mittäterin, die nicht zwingend selbst an den Tatorten gewesen sein muß. Viel Zeit investierten Prozeßbeteiligte daher in Fragen zu ihrem Rollenverhalten, wenn Zeugen aus der Neonaziszene sowie Nachbarn und Urlaubsbekanntschaften in den Zeugenstand traten. Immer wieder fiel in deren Aussagen das Wort »selbstbewußt«; zumindest im Campingurlaub verwaltete Zschäpe demnach das gemeinsame Geld. Bisher schweigt sie konsequent. Ebenso die Mitangeklagten André Eminger und Ralf Wohlleben. Letzterer sitzt als einziger außer Zschäpe noch in Untersuchungshaft. Holger Gerlach, der ebenfalls schweigt, seit er im Frühsommer letzten Jahres eine vorgefertigte Erklärung vor Gericht verlesen hatte, hat inzwischen das Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamtes verlassen. In einem solchen befindet sich nur noch Carsten S., der zum Zeitpunkt der Waffenübergabe an die mutmaßlichen Haupttäter noch heranwachsend war. Er hat bisher als einziger von fünf Angeklagten Fragen zu den Tatvorwürfen beantwortet.

Wenn Opferfamilien die Beweisaufnahme zum Mord an ihrem Angehörigen selbst im Gerichtssaal verfolgen wollen, müssen sie wegen des durcheinandergeratenen Zeitplans zum Teil mehrfach anreisen. Dennoch, das betont Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer immer wieder, sei ein schnelles Urteil auf Kosten der umfassenden Aufklärung das letzte, was seine Mandantin wolle. Er vertritt Gamze Kubasik, die Tochter des ermordeten Kioskbesitzers aus Dortmund.

Geheimdienstzeugen

Auch für Ismail Yozgat geht umfassende Aufklärung vor, obwohl der 59jährige gesundheitlich angegriffen ist – nach dem Tod seines Sohnes Halit und den Verdächtigungen in seinem Umfeld hatte er einen Herzinfarkt erlitten. Dennoch wäre es für ihn, seine Frau und die Anwälte der Familie ein Erfolg, wenn Andreas Temme noch einmal in den Zeugenstand treten müßte – der ehemals beschuldigte hessische Verfassungsschützer, der beim Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé nur wenige Meter entfernt gewesen war und angeblich nichts bemerkt hatte. Ismail Yozgat hatte den Beamten im April schließlich selbst vernommen und mit den Worten »Temme, ich glaube dir überhaupt nicht« verabschiedet, bevor Richter Manfred Götzl ihn entließ. Mit Blick auf die offenen Beweis­anträge zum Zeugen Temme sagte Nebenklageanwalt Alexander Kienzle am Montag im Gespräch mit junge Welt, es sei gut möglich, daß Temme noch einmal vor dem Münchner Gericht erscheinen müsse. Im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft sei der Vorsitzende Richter Manfred Götzl »konstant interessiert« an der Rolle des Geheimdienstlers und zeige ein eigenes Aufklärungsinteresse. Zum Beispiel habe der Richter Temme aus einem Beweisantrag der Nebenklage vorgehalten, daß Markierungen auf einem Stadtplan der mutmaßlichen NSU-Terroristen seinen regelmäßigen Fahrt- und Wegstrecken entsprechen.

So oder so werden die Inlandsgeheimdienste noch Thema in diesem Prozeß sein – denn auch Tino Brandt, der frühere Anführer der NSU-Brutstätte »Thüringer Heimatschutz«, war V-Mann und steht auf der Zeugenliste.

Ein Mammutkomplex wird jedoch die Beweisaufnahme zum Kölner Nagelbombenanschlag mit mehr als 20 Verletzten in der Keupstraße 2004. Anfang Juni soll aber zunächst der Anschlag auf ein deutsch-iranisches Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse verhandelt werden, bei dem die Nebenklägerin Mashia M. 2001 schwer verletzt wurde.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 6. Mai 2014


Zschäpe und die alte Dame

Die 92jährige Zeugin Charlotte E. kommt trotz schwerer Krankheit nicht zur Ruhe

Von Claudia Wangerin **


Die Zeugin Charlotte E. soll nun hilfsweise von einem Zwickauer Amtsrichter im Pflegeheim befragt werden. Dies hat das Oberlandesgericht München auf Antrag der Verteidigung beschlossen, nachdem die versuchte Videovernehmung der 92jährigen zu einem der Tiefpunkte im Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) geworden war. »Was wir heute gesehen haben, war ein Ansatz zur Körperverletzung und eine massive Verletzung des Persönlichkeitsrechts«, hatte Nebenklageanwalt Eberhard Reinecke erklärt, als am 20. Dezember das Bild der gebrechlichen, demenzkranken Frau in den Saal gebeamt worden war. Die Vernehmung mußte nach wenigen Sätzen abgebrochen werden, weil Charlotte E. den Fragen des Richters kaum folgen konnte. Das Gericht hatte damit seine eigene Ablehnungsbegründung für einen Tonmitschnitt der gesamten Hauptverhandlung als Farce erscheinen lassen. Eine akustische Aufzeichnung löse »bei vielen Zeugen Hemmungen aus, frei und unbefangen zu sprechen«, hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im Mai 2013 gesagt. Demnach hätte Frau E. erst recht Hemmungen haben können, vorausgesetzt, die von Angehörigen und Ärzten bekundete Demenzerkrankung ist nicht so weit fortgeschritten, daß sie nichts mehr mitbekommt.

Die Anwälte der mutmaßlichen Neonaziterroristin Beate Zschäpe hatten auf die Vernehmung der alten Dame gedrängt, die durch den Brand in der Wohngemeinschaft des mutmaßlichen NSU-Kerntrios die Räume verlor, in denen sie ihren Lebensabend verbringen wollte. Sie wohnte Wand an Wand mit Zschäpe und ihren Komplizen – und war im Haus, als vermutlich Zschäpe die Wohnung des Trios in Brand steckte, um Beweismittel zu vernichten. Das Gericht soll nun klären, ob Zschäpe nach Ausbruch des Feuers bei der Nachbarin klingelte oder sie womöglich in Mordabsicht ihrem Schicksal überließ.

Die Verteidigung Zschäpes scheint zumindest die Brandstiftung als solche nicht mehr bestreiten zu wollen, nachdem Sachverständige die Beweislage referierten. Daß ihre Anwälte solches Gewicht auf die Aussage einer demenzkranken Frau legen, kann nur dazu dienen, noch einmal zu unterstreichen, daß außer der Brandstiftung alle anderen Taten bestritten werden sollen. Allerdings hätte es kein Motiv gegeben, dieses Feuer zu legen, wenn Zschäpe nichts von anderen Verbrechen gewußt hätte.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 6. Mai 2014


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