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Aufklärung unerwünscht

200 Tage NSU-Prozess: Opferanwälte werfen Anklägern vor, systematisch Erkenntnisse zurückzuhalten. Neonazis und Geheimdienstler lügen ungestraft

Von Claudia Wangerin, München *

Sie vertreten Angehörige von Ermordeten oder schwer verletzte Attentatsopfer – und anders als in gewöhnlichen Strafprozessen befinden sich Nebenklagevertreter im Münchner NSU-Prozess im Dauerkonflikt mit den Anklägern. 22 der Opferanwälte verbreiteten am gestrigen 200. Verhandlungstag eine Erklärung, in der sie schwere Vorwürfe gegen Bundesanwaltschaft und Geheimdienste erhoben. Die Bundesanwaltschaft halte im Prozess um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) »systematisch Akten und Erkenntnisse zurück«, heißt es in der Stellungnahme vom Donnerstag. Bei Geheimdienstzeugen seien »offene und nicht geahndete Verstöße gegen die Wahrheitspflicht« sowie »angebliche und manchmal groteske Erinnerungs- und Ahnungslosigkeit« zu beobachten.

Gründe für die Nichtaufklärung seien auch die Vielzahl der »enttarnten und nicht enttarnten« sogenannten Vertrauenspersonen des Verfassungsschutzes im Unterstützerumfeld des NSU, die »unzähligen echten und scheinbaren Fahndungspannen« bei der Suche nach dem mutmaßlichen Kerntrio, sowie »das Zurückhalten und Schreddern von relevanten Akten«. Als Beispiel nannten sie die von Marcel Degner, ehemals Thüringer Sektionschef des »Blood & Honour«-Netzwerks.

Anders als in Antiterrorprozessen gegen Linke oder Islamisten hat sich die Bundesanwaltschaft im Fall des NSU auf eine Mitgliederzahl festgelegt: Die Rede ist vom »Trio«. Angeklagt sind fünf Personen, von denen aber nur Beate Zschäpe vollwertiges NSU-Mitglied gewesen sein soll. Durch den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Jahr 2011 sei die terroristische Vereinigung aufgelöst, so die Lesart der Bundesanwaltschaft. Zschäpes Mitangeklagte Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten S. gelten als Helfer. Manche Prozessbeteiligte wollen nicht ausschließen, dass nicht enttarnte V-Leute sogar auf der Anklagebank vertreten sind.

Vor dem Oberlandesgericht (OLG) München werde »der falsche Schein« erzeugt, die überwiegend rassistisch motivierten Morde und Anschläge des NSU könnten gerichtlich aufgeklärt werden, »ohne die Rolle der Geheimdienste zu thematisieren«, so die 22 Opferanwälte. »Es wird auf lange Sicht aufgrund der Struktur der Nachrichtendienste und deren Verhalten im NSU-Komplex trotz der Ermittlungen der Untersuchungsausschüsse und der umfangreichen Beweisaufnahme vor dem OLG München keine tatsächliche Aufklärung geben«, befanden sie. Hoffnungsvoll wirkt ihre Forderung an die Bundesregierung und Landesregierungen: die Geheimdienste anzuweisen, alle Akten von V-Leuten, Informanten und Gewährspersonen, die über das Trio, den NSU und seine Unterstützer berichtet haben, vollständig und ungeschwärzt dem Gericht und den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zuzuleiten. »Problematisch kann diese Aufklärung für die Behörden nur sein, wenn sich weitere V-Personen im Unterstützerumfeld des NSU befanden, deren Identität und gelieferte Informationen über das Trio und den NSU zurückgehalten werden sollen«, so die Anwälte. Sie forderten »nicht durch die Staatsräson begrenzte Aufklärung«. Die Bundesanwaltschaft wies die Vorwürfe zurück: Eine Sprecherin sagte der Nachrichtenagentur dpa, es sei »jede Person vernommen« worden, »die etwas zur Aufklärung beitragen konnte«.

Zwei von drei geladenen Zeugen erschienen am Donnerstag nicht vor Gericht, eine 46jährige aus der Chemnitzer Neonaziszene machte ein schlechtes Gedächtnis geltend und erklärte andererseits, sie würde sowieso niemanden verraten.

* Aus: junge Welt, Freitag, 24. April 2015


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