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Vertuschungsverdacht bei NSU-Ermittlungen

Ein V-Mann soll bereits 2005 eine CD mit Informationen an den Verfassungsschutz übergeben haben

Von René Heilig *

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wusste mindestens seit 2005 von der Existenz der Neonazi-Terror-Organisation »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU).

Der am 7. April 2014 tot aufgefundene ehemalige V-Mann Thomas Richter – Deckname »Corelli« – hat dem Bundesamt für Verfassungsschutz bereits 2005 eine CD mit rechtsextremem Material u.a. zum Thema NSU übergeben. Das berichtete die »Bild«-Zeitung am Dienstag. Der Geheimdienst konnte jedoch angeblich nichts mit dem Begriff NSU anfangen. So wie drei Jahre zuvor, als das Szeneblatt »Der Weiße Wolf« den Eingang einer Spende annoncierte: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen.«

Richter war seit Anfang der 90er Jahre in der Neonaziszene aktiv. Zwischen 1994 und 2012 war er der V-Mann »Corelli«. Er genoss die höchste Bewertungsstufe. Das BfV soll ihm insgesamt 180 000 Euro gezahlt haben. Bereits 1995 lernte Richter das spätere NSU-Mitglied Uwe Mundlos kennen. Der V-Mann informierte das BfV, dass Mundlos mit Freunden die »Kameradschaft Jena« gegründet habe. Richter ist im Adressbuch von Mundlos notiert, das Ermittler 1998 beschlagnahmten. Bei seiner BKA-Vernehmung Anfang 2012 – der NSU flog im November 2011 auf – log er, das er »zu diesen Typen« keinerlei Kontakte gehabt habe. Das BfV bestätigte: Der V-Mann habe nichts mit dem NSU zu tun gehabt.

Der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Frau Beate Zschäpe und angeklagte Helfer war gerade ein Jahr alt, da fand man den vom BfV versteckten 39-Jährigen tot in seiner Wohnung in der Nähe von Paderborn. »Todesursache ungeklärt«, kreuzte der gerufene Notarzt an. Kurz vor dem Tod des Ex-V-Mannes lieferte ein Neonazi beim Hamburger Verfassungsschutz eine CD ab, die er 2006 von Richter bekommen haben will. Enthalten ist eine Datei »NSDAP/NSU«.

Am 9. April hat es eine Besprechung zwischen dem BfV, der Polizei Bielefeld und dem Staatsanwalt in Paderborn zu der »voll-legendierten Person« gegeben, die fortan durch eine »natürliche Todesursache« gestorben war. Die örtlichen zuständigen Ermittler waren »raus« und alle Asservate gingen zum BfV.

Generalbundesanwalt Harald Range beauftragte das Bundeskriminalamt mit Ermittlungen lediglich zur »NSDAP/NSU«-CD. Erst nachdem »politischer Druck« spürbar wurde, bequemte man sich vor wenigen Tagen, den Hamburger CD-Besitzer zu befragen.

Anfragen im Bundestag werden nicht beantwortet, um das Ermittlungsverfahren »nicht zu gefährden«. Gemauert wird im Innenausschuss, der sich seit April permanent mit »Corelli« befasst. Nicht einmal das toxikologische Todesgutachten wird vorgelegt und BfV-Chef Hans-Georg Maaßen beharrt darauf, erst im April von so einer CD erfahren zu haben. Am Mittwoch wird das Gremium erneut zusammentreten; am Montag ist eine Sondersitzung des parlamentarischen Geheimdienst-Kontrollgremiums angesetzt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Oktober 2014


Verschwiegen wie ehedem

René Heilig fordert endlich echte Ermittlungen zum NSU-Netzwerk **

Wenn das stimmt, was ein offensichtlich Kundiger den Medien geflüstert hat, dann hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz bereits 2005 von einem Topp-V-Mann eine CD erhalten, auf der sich eindeutige Hinweise zur Existenz eines Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) befanden. Doch der Geheimdienst unternahm nichts, was seinem Namen entsprach. Warum? Weil man von der Existenz solcher Truppen wusste? Weil Wegsehen nützlich war? Weil man die Gefährlichkeit des Nazi-Terrors unterschätzte? Oder war man zu überheblich, zu dumm und faul?

Als Antwort dient sicher eine Melange der Möglichkeiten. Tatsache aber ist, dass die in den vergangenen drei Jahren abgegebenen Beteuerungen der Bundesregierung, die Behörden hätten bis zum Tod von Böhnhardt und Mundlos im November 2011 nichts von der Neonazi-Terror-Truppe gewusst, ja sogar nichts wissen können, falsch und eine Frechheit sind. Empfindet das die Kanzlerin auch so? Sie gab den Angehörigen der Ermordeten ihr Wort, dass die brutalen Verbrechen restlos aufgeklärt werden.

Der 39-jährige Ex-V-Mann, der die CD 2005 weitergab, war dicht dran am NSU. Im März 2014 verstarb »Corelli«. Der Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt untersuchen die CD-Hintergründe so lustlos, dass man fragen muss: Geht es wirklich »nur« darum, die beim NSU-Prozess in München vertretene Anklage gegen NSU-Frau Zschäpe und Konsorten nicht realitätsbezogener formulieren zu müssen?

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Oktober 2014 (Kommentar)


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