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Drei plus X

NSU-Prozeß. Gibt es doch mehr Rechtsterroristen, als die Staatsanwaltschaft behauptet? An mehreren Tatorten stehen die ausführenden Täter nicht zweifelsfrei fest

Von Claudia Wangerin *

Ein langhaariger Neonaziterrorist, der vielleicht noch frei herumläuft – das hatte die Bundesanwaltschaft nicht auf dem Zettel. Sie sieht sich auch durch eine neue Täterbeschreibung nicht veranlaßt, ihre These von der dreiköpfigen Terrorgruppe mit nur einer Überlebenden zu revidieren. Aber die letzten Verhandlungstage im Münchner NSU-Prozeß haben deutlich gemacht: Nicht an allen Tatorten der Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) sind die ausführenden Haupttäter so sicher identifiziert wie im Fall des Nagelbombenanschlags mit 22 Verletzten in der Kölner Keupstraße 2004. Dort hatten Überwachungskameras festgehalten, wie zwei Männer mit dem Aussehen der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das Fahrrad mit dem Sprengsatz plazierten. Eine Zeugin aus Nürnberg erkannte später auf diesem Videomaterial die Personen, die sie am 9. Juni 2005 in der Nähe des Tatortes gesehen hatte, an dem der Imbißbetreiber Ismail Yasar erschossen wurde. Ein weiterer Zeuge im Mordfall Yasar identifizierte zumindest einen der beiden verdächtigen Radfahrer auf einem Lichtbild als Mundlos. Den zweiten beschrieb der Iraker im Oktober vor Gericht aber deutlich kleiner und stämmiger als Böhnhardt es war.

Das ließe weniger aufhorchen, wenn es nicht an weiteren NSU-Tatorten Hinweise auf andere oder zusätzliche Haupttäter gäbe. Wie beim ersten Bombenanschlag, zu dem sich der NSU nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt 2011 bekannte. Im Dezember 2000 hatte nach Aussage von Vater und Schwester der schwer verletzten Mashia M. ein Mann mit längeren, welligen Haaren den Präsentkorb mit der Bombe im Ladenlokal der Familie in der Kölner Probsteigasse zurückgelassen. Da der Zeuge Djavad M. sehen konnte, daß die Haare des Mannes schon etwas zurückgingen, war es wohl keine Perücke. Wenn Mundlos und Böhnhardt aber die Radfahrer waren, die am Tatort gesehen worden waren, als in Nürnberg dreieinhalb Monate zuvor der Blumenhändler Enver Simsek erschossen wurde, können ihre Haare bis zum Anschlag in Köln nicht so stark gewachsen sein. Sowohl Djavad M. als auch seine jüngere Tochter erkannten bei Lichtbildvorlagen nicht Mundlos oder Böhnhardt. Die damals 14-jährige Mashid M. hatte sie in der polizeilichen Vernehmung sogar ausgeschlossen. Auf Nachfrage war sie am Donnerstag letzter Woche vor Gericht bei Mundlos nicht mehr ganz sicher. Dagegen tippten sowohl sie als auch ihr Vater von sich aus auf Bilder von Holger Gerlach, der lediglich als Helfer des NSU gilt, waren sich aber dann auch nicht sicher. Djavad M. sagte schließlich, er glaube, der sei es »auch nicht« gewesen.

Zweifel an Thesen der Anklage gegen Beate Zschäpe, die mit Mundlos und Böhnhardt alles geplant haben soll, was die beiden ausgeführt haben, nachdem das Trio 1998 gemeinsam untergetaucht war, sind schon länger bekannt. Nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 hatten mehrere Zeugen blutverschmierte Personen zu einem Zeitpunkt gesehen, als Mundlos und Böhnhardt nach Logik der Anklage nicht mehr in Tatortnähe gewesen sein können. Das Wohnmobil, in dem sie unterwegs gewesen sein sollen, war schon kurz nach dem Mord an einem gut 20 Kilometer entfernten Kontrollposten gesehen worden. Auch damals angefertigte Phantombilder sehen Mundlos oder Böhnhardt nicht besonders ähnlich.

Für ihre Täterschaft oder Mittäterschaft bei der rassistischen Mordserie mit neun Opfern sprechen außer dem Fund der Ceska-Pistole im Brandschutt ihrer Zwickauer Wohnung und dem Geständnis des Waffenkuriers Carsten S. die zeitlich zu den Taten passenden Anmietungen der Wohnmobile. Dafür waren meist Papiere auf den Namen Holger Gerlach benutzt worden. Dieser hatte sich die Haare schneiden lassen und eine Brille aufgesetzt, um für die Fotos Böhnhardt möglichst ähnlich zu sehen. Im Fall des Anschlags in der Probsteigasse hatte nach Aktenlage André Eminger das Fahrzeug gemietet. Der mutmaßliche NSU-Helfer ist jedoch kleiner und stämmiger, als die Zeugen den Mann mit dem Korb beschrieben.

* Aus: junge Welt, Freitag 13. Juni 2014


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