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Dreister geht es immer

NSU-Prozess: Ex-"Blood & Honour"-Sektionschef will nie V-Mann gewesen sein. Mittlerweile benehmen sich die Neonazis vor Gericht, wie es ihnen beliebt

Von Claudia Wangerin *

Unglaubwürdig und dreist wirken im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München viele Zeugen, die um die Jahrtausendwende der Neonaziszene angehört haben. Prozessbeteiligte und Beobachter glaubten nach knapp zwei Jahren kaum, dass in diesem Punkt noch eine Steigerung möglich wäre. Mit Marcel Degner, ehemals Chef der »Blood & Honour«-Sektion Thüringen, wurde am Mittwoch aber doch eine neue Qualität erreicht: Das Gericht hatte beim Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz eine Aussagegenehmigung für den 39jährigen erwirkt, der nach Erkenntnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse zur fraglichen Zeit »Vertrauensmann« des Dienstes war. Ein Beamter des Thüringer Verfassungsschutzes hatte dies an einem früheren Prozesstag eher widerwillig eingeräumt. Degner bestritt aber nun vor Gericht vehement, jemals V-Mann gewesen zu sein.

Auf die Frage, ab wann er Kontakt zu der Behörde gehabt habe, antwortete der Zeuge: »Gar nicht.« Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hakte nach: »Haben Sie nicht für das Landesamt Thüringen als Quelle gearbeitet?« Antwort: »Nein.« Im Jahr 2001 habe er das erstmals in der Presse gelesen, »und seitdem wird mir das ständig vorgeworfen«, sagte Degner. Tatsächlich habe er einmal angebliche Mitarbeiter des Landeskriminalamtes weggeschickt, die ihn angesprochen hätten.

Auf einem Neonazikonzert am 13. November 1999 in Schorba hatte sich Degner ausgerechnet mit dem späteren V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes, Thomas Starke, über das untergetauchte Trio aus Jena unterhalten, das zwölf Jahre später als »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) bekannt wurde: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die damals wegen unerlaubten Sprengstoffbesitzes gesucht wurden und im Jahr darauf zum ersten Mal getötet haben sollen.

Starke war seinerzeit Funktionär der »Blood & Honour«-Sektion Sachsen, deren harter Kern das NSU-Trio in Chemnitz versteckt hielt. Degner alias »Quelle 2100« soll sich am Rande des Konzerts bei Starke erkundigt haben, ob die Untergetauchten Geld bräuchten – obwohl er sie angeblich nicht persönlich kannte, wie er vor Gericht behauptete. Starke soll ihm damals mitteilt haben, das Trio würden jetzt »jobben«. Nach heutigen Erkenntnissen hatten sie da bereits Banken überfallen. »Quelle 2100« soll 1999 dem Verfassungsschutz über die Begegnung mit Starke und die finanzielle Lage der drei Gesuchten berichtet haben. Degner will es nicht gewesen sein. Bei seiner polizeilichen Vernehmung nach Bekanntwerden des NSU hatte der Zeuge noch erklärt, er wolle zur »möglichen Zusammenarbeit« mit dem Landesamt für Verfassungsschutz keine Angaben machen, da er sich durch Medienberichte belastet fühle. Am Mittwoch wollte er seine mutmaßlichen V-Mann-Führer auch auf Fotos nicht erkennen. Angeblich hatte er auch nie vor, den Untergetauchten Geld zukommen zu lassen, konnte aber nicht erklären, warum er dann diese Frage gestellt hatte, wenn er kein V-Mann war.

»Ich möchte hier die Wahrheit hören«, stellte Richter Götzl klar. Bundesanwalt Herbert Diemer kündigte an, die Anklage gehe jetzt dem Verdacht der Falschaussage nach – sollte tatsächlich ein Verfahren eingeleitet werden, wäre dies ein Novum im NSU-Prozess. Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann beantragte am Mittwoch, die Vernehmung Degners zu unterbrechen und zunächst noch einmal den Verfassungsschutzbeamten als Zeugen zu befragen, der ihn als »Quelle 2100« identifiziert hatte.

Am Donnerstag sagte vor Gericht ein früherer Schulfreund des mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos aus. Das Argument, sein eigener behinderter Bruder hätte wohl im Hitlerfaschismus als »unwertes Leben« gegolten, habe Mundlos damals einfach »weggewischt«, sagte der 41jährige Zeuge. Schon früh habe Mundlos, der Sohn eines Informatikprofessors, selbst Computerspiele geschrieben, in denen es darum gegangen sei, »Juden abzuschießen«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 13. März 2015


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