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Dichtung, Deals und Wahrheit

NSU-Prozess: Mutmaßlicher V-Mann aus Thüringen könnte wegen Falschaussage belangt werden. Kasseler Neonazi will für Hafterleichterungen Polizei belogen haben

Von Claudia Wangerin *

Nach zwei Jahren Hauptverhandlung im NSU-Prozess wissen alle Interessierten, wie unwahrscheinlich es ist, dort als Zeuge aus der Neonaziszene wegen Falschaussage belangt zu werden. Genau diese Möglichkeit prüft nun aber die Bundesanwaltschaft im Fall des früheren »Blood & Honour«-Funktionärs Marcel Degner. Die Anklagebehörde hat Zweifel an Degners Behauptung, er sei kein V-Mann gewesen, wie Bundesanwalt Herbert Diemer am Mittwoch nach Angaben der Deutschen Presse-Agentur vor dem Oberlandesgericht München erklärte. Andere Zeugen aus dem Umfeld der mutmaßlichen Haupttäter des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) waren bisher mit fast unglaublichen Erinnerungslücken durchgekommen. Vereinzelt hatten sie auch frühere Kameraden der Lüge oder des Drogenwahns bezichtigt, um ihre eigene Rolle bei der Beschaffung von Waffen, Geld oder Quartieren für das 1998 untergetauchte Trio herunterzuspielen, dem heute zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und mehrere Raubüberfälle zugeordnet werden. »Bei dieser Bundesanwaltschaft muss sich kein lügender Nazizeuge Sorgen machen, strafverfolgt zu werden«, hatte Nebenklageanwalt Yavuz Narin Ende 2014 erklärt.

In diesem Fall kommt die Bundesanwaltschaft als Hüter der Staatsräson aber kaum daran vorbei, denn wenn Marcel Degner nicht lügt, tun es staatliche Stellen. Ein Ex-V-Mann-Führer des Thüringer Verfassungsschutzes hatte im April vor Gericht bekräftigt, dass Degner für ihn als »Quelle« gearbeitet habe, nachdem dieser im März behauptet hatte, das sei nicht der Fall gewesen. Dabei hatte das Landesinnenministerium dem Gericht eine Aussagegenehmigung für Degner übersandt.

Im März war außerdem bekannt geworden, dass ein anderer Neonazi und Ex-V-Mann in der Untersuchungshaft sogar mit Falschaussagen und vorgeschützten Erinnerungslücken im NSU-Verfahren geprahlt habe. Der 40jährige Tino Brandt sitzt zur Zeit eine Haftstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen ab. Früher war er »Führungskraft« des »Thüringer Heimatschutzes«, in dem sich das mutmaßliche NSU-Kerntrio bis zu seinem Untertauchen radikalisiert hatte. Als Zeuge im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer habe er exakt nur das ausgesagt, was Gericht und Bundesanwaltschaft ohnehin schon aus den Akten wüssten – er sei schließlich »kein Kameradenschwein«, zitierte ihn ein Mitgefangener nach Medienberichten. Seine Kooperation mit dem Verfassungsschutz hatte Tino Brandt nach seiner Enttarnung schon mehrfach als »Win-Win-Situation« beschrieben: Die Honorare seien in die »politische Arbeit« geflossen.

Ein weiterer Zeuge hat am Dienstag im NSU-Prozess bekräftigt, dass er in seiner polizeilichen Vernehmung gelogen und sich sein angebliches Insiderwissen ausgedacht habe: Der Kasseler Neonazi Bernd Tödter will sich davon Hafterleichterungen erhofft haben. Der 40jährige sitzt wegen diverser Gewaltdelikte immer mal wieder in Straf- oder Untersuchungshaft – zur Zeit, weil er mit anderen Mitgliedern seines Vereins »Sturm 18« einen 46jährigen Mann eine Woche in einer Wohnung gefangengehalten und gequält haben soll. Im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer war er als Zeuge geladen, weil er kurz nach dem Bekanntwerden der Terrorgruppe behauptet hatte, er wisse von Besuchen der mutmaßlichen Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Kassel. Kurz vor dem Mord an Halit Yozgat, der als letztes Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des NSU gilt, seien Mundlos und Böhnhardt mit dem ICE nach Kassel gereist. Er selbst habe sie im März 2006 am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe abgeholt. Dabei seien sie von Polizisten in Zivil fotografiert worden. Später seien Mundlos und Böhnhardt mit weiteren Personen zu einer Party gekommen, bei der die Band »Oidoxie« gespielt habe. All diese Aussagen, die Tödter im Frühjahr 2012 gegenüber dem hessischen Landeskriminalamt und dem Bundeskriminalamt gemacht hatte, nahm er vor Gericht zurück.

Vergangene Woche hat sich auch der Innenausschuss des hessischen Landtags mit Tödter und dessen Verein »Sturm 18« mit dem Zahlencode für »Adolf Hitler« befasst. Tödter sei in der Szene eine »schillernde Figur«, welche seiner Aussagen stimme, sei nur schwer feststellbar, sagte der Landtagsabgeordnete Hermann Schaus (Die Linke) am Mittwoch gegenüber junge Welt. Schaus wirft dem hessischen Innenministerium vor, nichts gegen die Eintragung von »Sturm 18« ins Vereinsregister getan zu haben: Ein Rechtspfleger des Amtsgerichts habe sich hilfesuchend an das Ministerium gewandt, daraufhin aber die Stellungnahme erhalten, dass es keine rechtliche Handhabe gegen die Eintragung gebe. Das Vereinsrecht biete da sehr wohl Möglichkeiten, wenn die Zwecke des Vereins den Gedanken der Völkerverständigung negieren, betont Schaus. Statt aber dem Verein »Adolf Hitler« von vornherein die Eintragung zu verweigern, wurde seit Juli 2014 die Möglichkeit eines Verbots geprüft. Dieses werde nun »sorgfältig und mit hoher Priorität vorbereitet«, so Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) am Mittwoch vergangener Woche im Innenausschuss des Landtags.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 21. Mai 2015


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