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"Jetzt erst recht"

NSU-Prozeß: Eine tapfere Überlebende, unbekannte Mittäter und eine verspielt lackierte Stollendose: Der Kölner Bombenanschlag vor 13 Jahren

Von Claudia Wangerin, München *

Als Mashia M. nach mehr als zehn Jahren das Motiv für den Mordanschlag erfuhr, den sie am 19. Januar 2001 überlebt hatte, war ihr erster Gedanke: »Was soll ich denn noch hier?« »Jetzt weiß Mashia M., wie wichtig uns der Erhalt der deutschen Nation ist«, hieß es in einem verspätet aufgetauchten Bekennervideo über die damals schwer verletzte Tochter einer aus dem Iran eingewanderten Familie. Dann habe sie bewußt entschieden, ihr Leben in Deutschland weiterzuführen: »Jetzt erst recht«, sagte die heute 32jährige Ärztin am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht München. Mehrere Prozeßbeobachter applaudierten im NSU-Verfahren der Nebenklägerin, von der zuvor ein Polizeibeamter gesagt hatte, sie habe nach dem Bombenanschlag auf das Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern in der Kölner Probsteigasse »wie ein Stück Grillfleisch« ausgesehen. »Dieses Bild hat sich in meine Seele eingeprägt, das werde ich nie vergessen«, so der Beamte. Mashia M. war in ein künstliches Koma versetzt worden. Nach eigenen Worten hatte sie im Krankenwagen »um Schmerzmittel gebettelt«; sie habe nichts sehen können, weil ihre Augen nach der Explosion verklebt gewesen seien. Auf einer Seite war ihr Augenhöhlenboden gebrochen, beide Trommelfelle waren geplatzt.

Die Gesichtsverletzungen der damals 19jährigen sind den Umständen entsprechend gut verheilt, aber trotz Narbenkorrekturen und Laserbehandlungen aus der Nähe bis heute sichtbar genug, um immer wieder gefragt zu werden: »Was ist denn mit dir passiert?« So schilderte Mashia M. die Folgen des Anschlags.

Es war das erste Sprengstoffattentat, das dem »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) in der Anklageschrift zugeordnet wird. Allerdings hat einer der fünf Angeklagten, Carsten S., vor rund einem Jahr den Hinweis gegeben, daß es bereits das zweite nach einem Anschlag mit einem Verletzten in Nürnberg gewesen sein könnte. Bei letzterem war eine Taschenlampe als Bombenkörper benutzt worden.

Am 19. Januar 2001 hatte Mashia M. im Hinterzimmer des Lebensmittelladens in der Probsteigasse eine Stollendose geöffnet, die sich in einem Wochen zuvor dort abgegebenen Geschenkkorb befand. Der Überbringer, von dem später ein Phantombild erstellt wurde – die Anklage geht davon aus, daß es einer der mittlerweile toten NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt war – hatte sich als Kunde ausgegeben und den Korb angeblich nur kurz dort lassen wollen, um seine vermißte Geldbörse zu suchen.

Gerade die verspielte Lackierung der Stollendose – rot mit weißen Sternchen – wirkte nach einem Jahr NSU-Prozeß, zehn bereits verhandelten Morden und ausführlichen Obduktionsberichten besonders verstörend. Wer das intakte Vergleichsstück im Gerichtssaal sah, mußte zwangsläufig daran denken, daß hier auch das letzte Tabu vieler Schwerverbrecher gebrochen wurde: Wer eine potentiell tödliche Bombe so verpackt, nimmt billigend in Kauf, daß auch Kinder sterben. Und es ist keineswegs sicher, daß nicht noch unbekannte Mittäter frei herumlaufen.

»Keiner der hier Anwesenden wird mir garantieren können, daß es nicht noch zusätzliche Leute gibt, die morgen schon wieder vor der Tür stehen«, betonte Mashia M. vor Gericht mit Blick auf die Terrorgruppe NSU, die laut Anklageschrift nur drei Mitglieder und wenige Unterstützer hatte. Rechtsanwältin Edith Lunnebach, die Mashia M. in der Nebenklage vertritt, geht von lokalen Tipgebern aus, weil das Anschlagsziel drei Neonazis mit Wohnsitz in Sachsen kaum ins Auge springen konnte: Tatortfotos zeigen einen deutschen Namen auf der Beschriftung des Ladenlokals. Polizeiliche Ermittler bestätigten in der Zeugenbefragung, daß von außen kaum zu erkennen war, daß eine Familie mit Migrationshintergrund das Geschäft betrieb. Es sei auch keine Gegend mit überdurchschnittlich hohem Migrantenanteil.

Mashia M. berichtete auf Nachfrage, ihrer Mutter sei nach Bekanntwerden des NSU eine Frau wieder eingefallen, die einige Wochen vor dem Anschlag dringend die Toilette des Ladens hatte benutzen wollen. Sie soll Ähnlichkeit mit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe gehabt haben.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Juni 2014


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