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Der Unbekannte mit der Bombe

NSU-Prozeß. Täterbeschreibung aus der Kölner Probsteigasse widerspricht Anklagethese

Von Claudia Wangerin *

In der Beweisaufnahme zum Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse hat der Vater der Hauptgeschädigten am Donnerstag im NSU-Prozeß eine Täterbeschreibung abgegeben, die der Anklagethese über die Zahl der Haupttäter des »Nationalsozialistischen Untergrunds« widerspricht. Auf Fotos erkannte der 62jährige Djavad M. keinen der mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Überbringer des Geschenkkorbs mit der Bombe, die seine Tochter Mashia am 19. Januar 2001 schwer verletzt hatte. Statt dessen beschrieb er vor dem Oberlandesgericht München einen Mann mit »ziemlich langen, welligen Haaren«. Nach Angaben von M. waren sie »auf der Stirn schon etwas zurückgegangen«. Demnach kann es sich nicht um eine Perücke gehandelt haben. Mundlos und Böhnhardt hatten aber nach allem, was bisher bekannt ist, zu diesem Zeitpunkt kurzes Haar. Schon wenige Tage vor Weihnachten 2000 hatte der von M. beschriebene Mann den Korb im Lebensmittelgeschäft der Familie stehen lassen. Angeblich wollte er nur seine Geldbörse holen.

In Tatortnähe des Nürnberger Mordes an Enver Simsek am 9. September 2000 – also etwa dreieinhalb Monate zuvor – waren, wie später bei weiteren Taten, zwei verdächtige Radfahrer mit sehr kurzen Haaren gesehen worden. Nach Überzeugung der Ankläger waren dies Mundlos und Böhnhardt, die neben der heutigen Hauptangeklagten Beate Zschäpe die einzigen Mitglieder des NSU gewesen sein sollen. Beide Anschläge kommen in später aufgetauchten NSU-Bekennervideos vor. Die Haare der Männer können aber im Zeitraum dazwischen nicht so stark gewachsen sein. Beide hatten mit der Täterbeschreibung aus der Kölner Probsteigasse nur so allgemeine Merkmale wie das mitteleuropäische Aussehen, die schlanke Figur und das ungefähre Alter von 25 bis 30 Jahren gemeinsam.

Zu einem Phantombild, das nach seinen Angaben erstellt worden war, erläuterte Djavad M., er habe nach dem Anschlag auf seine Tochter »neben sich« gestanden. Das Bild sei nicht stimmig. Bei der Lichtbildvorlage tippte Djavad M. auf Holger Gerlach, der lediglich als Helfer des NSU angeklagt ist: »Von den Gesichtskonturen könnte das hinhauen, aber ich habe das Gefühl, daß der Täter etwas mehr Haare hatte«, sagte er. Dann schon er nach: »Aber ich glaube ...nee, das ist er auch nicht gewesen.« Gerlach befindet sich zur Zeit auf freiem Fuß und hat bis heute vor Gericht keine Fragen zu den Tatvorwürfen beantwortet. Laut einer Erklärung, die er vor rund einem Jahr verlas, wußte er nichts von den Mordanschlägen, als er seinen drei untergetauchten Freunden half.

Die Mutter der verletzten Mashia M. berichtete am Donnerstag vor Gericht von einer verdächtigen Frau, die einige Zeit vor dem Anschlag dringend die Toilette des Ladens hatte benutzen wollen und »gewisse Ähnlichkeiten« mit Beate Zschäpe gehabt habe. Sie könne aber nicht sicher sagen, daß es die Angeklagte gewesen sei. Sie selbst mache sich als Mutter Vorwürfe, weil sie wegen des zurückgelassenen Korbes nicht die Polizei verständigt habe. Einen rechtsextremen Hintergrund habe sie vor der Aufdeckung des NSU selbst nicht für möglich gehalten, weil doch auch die deutsche Kundschaft des Ladens gefährdet worden sei.

Auch die jüngere Schwester von Mashia M. hatte den Mann mit dem Korb kurz gesehen und war sogar hypnotisiert worden, um sich genauer an ihn erinnern zu können. Davon habe sie sich aber ein besseres Ergebnis versprochen, sagte sie als Zeugin vor Gericht.

* Aus: junge Welt, Freitag, 6. Juni 2014


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