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Alles und nichts klar

NSU-Prozeß: Wohin die Reise für Beate Zschäpe geht, ist absehbar, ein Verhandlungsende nicht in Sicht. V-Mann-Aussage und Beweisaufnahme zur Kölner Nagelbombe im Herbst

Von Claudia Wangerin *

Seit Mitte voriger Woche sind Gerichtsferien – das Ende des Münchner Prozesses um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) ist auch nach 135 Verhandlungstagen nicht absehbar. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe muß sich schon jetzt auf eine Verturteilung wegen Mittäterschaft bei mehreren Morden einstellen. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) München in seiner ablehnenden Antwort auf die Haftbeschwerde des mit­angeklagten Neonazis Ralf Wohlleben Anfang Juli deutlich gemacht: Die Anklage der Bundesanwaltschaft habe sich bisher als belastbar erwiesen, hieß es in dem Schriftsatz, mit dem das Gericht die Haftfortdauer begründete. Das läßt Rückschlüsse auf die Situation der Hauptangeklagten zu. Wohlleben, der wie sie bisher schweigt, ist wegen Beihilfe zu neun Morden, Zschäpe wegen Mittäterschaft bei diesen und einem weiteren Mord sowie zwei Sprengstoffanschlägen angeklagt.

In ihrem Fall bedeutet es mehrfach »lebenslänglich«, wenn das Gericht in wesentlichen Teilen der Anklage folgt. Nur Zschäpe und ihre beiden Lebensgefährten im Untergrund waren laut Bundesanwaltschaft Mitglieder des NSU, der seit dem mutmaßlichen Selbstmord der beiden Männer am 4. November 2011 als aufgelöst gilt. Die heutigen vier Mitangeklagten gelten als Helfer oder Unterstützer des Trios, von dem nur noch Zschäpe lebt.

In mindestens zwei Anklagepunkten wackelt allerdings die These von der terroristischen Vereinigung mit nur drei Mitgliedern, da es handfeste Hinweise auf andere oder weitere Täter gibt. Im Fall des ersten Sprengstoffanschlags, durch den Anfang 2001 Mashia M., eine Tochter iranischer Flüchtlinge in Köln, schwer verletzt wurde, beschrieben Vater und Schwester der Geschädigten einen Mann, dessen Haarlänge und Haaransatz nicht zu den mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt paßten. Der Unbekannte soll die Bombe in einem Geschenkkorb im Lebensmittelgeschäft der Familie zurückgelassen haben. Im Fall des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn hatten mehrere Zeugen blutverschmierte Personen in Tatortnähe gesehen, als das Fahrzeug, in dem Böhnhardt und Mundlos unterwegs gewesen sein sollen, schon einige Kilometer entfernt war.

Für die Länge der Gesamtstrafen von Zschäpe oder Wohlleben dürften diese beiden Punkte kaum ins Gewicht fallen. Wohlleben ist diesbezüglich nicht angeklagt, da er »nur« die Beschaffung der Tatwaffe für neun andere Morde organisiert haben soll – und für eine frühzeitige Haftentlassung von Zschäpe nach 20 oder mehr Jahren wäre es kaum entscheidend, ob sie zehn- oder achtmal lebenslänglich bekommt. Es ist nicht auszuschließen, daß der Senat zum Beispiel beim Mordversuch an Mashia M. von einer Verurteilung absieht – Zschäpes Verteidiger brachten das »Stichwort Trittbrettfahrer« ins Spiel, um zu erklären, warum der Anschlag im 2011 verschickten NSU-Bekennervideo auftaucht.

Nichts deutet aber seit der abgelehnten Haftbeschwerde von Wohlleben darauf hin, daß das Münchner Gericht das Gesamtkonstrukt der Anklage in Frage stellt, nur weil es womöglich unbekannte Mittäter gibt. Strenggenommen müßte es das, da Zschäpes Stellung gegenüber anderen NSU-Mitgliedern für die Abgrenzung zwischen Beihilfe und Mittäterschaft entscheidend ist: Gleichberechtigt mit Mundlos und Böhnhardt soll Zschäpe Morde und Anschläge geplant haben, ohne selbst mit zu den Tatorten zu reisen. Zeugenaussagen über ihr selbstbewußtes Auftreten und ihre Funktion als Kassenwart bei Urlaubsreisen mit den »beiden Uwes« belasten sie.

Wenn am 4. September die Sommerpause endet, springt die Verhandlung wieder zur Vor- und Frühgeschichte des NSU. Mitte des Monats sollen Schweizer Polizisten zur Beschaffungskette der Ceska-Pistole aussagen – sowie ein Beamter des Polizeipräsidiums Mittelfranken zu den damit begangenen Morden an Enver Simsek und Abdurrahim Özüdogru. Ende September sind zwei Verhandlungstage für den früheren Thüringer V-Mann und Neonazi Tino Brandt reserviert. Irgendwann im Herbst soll die Beweisaufnahme zum Nagelbombenanschlag auf die Kölner Keupstraße mit 22 Verletzten im Jahr 2004 beginnen. Auf dem Überwachungsvideo, das die beiden Bombenleger zeigt, sind auch Personen zu sehen, die sich wie Observationskräfte verhalten. Auf den früheren hessischen Verfassungsschützer Andreas Temme, der beim NSU-Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel am Tatort war, wartet derweil der Untersuchungsausschuß des hessischen Landtags.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 13. August 2014


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