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"Behördliches Umfeld kaum aufgeklärt"

NSU-Prozeß: Nebenklageanwälte fordern Nachermittlungen im Fall der ermordeten Polizistin

Von Claudia Wangerin, München *

Mußte die Polizistin Michèle Kiesewetter sterben, weil sie regelmäßig in einem zivilen Aufklärungstrupp bei Neonaziaufmärschen im Einsatz war und sich dort persönliche Feinde machte, indem sie das »rechte Auge« nicht zudrücken wollte? Nebenklagevertreter im Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) haben am Dienstag in München umfangreiche Nachermittlungen zum Heilbronner Mordanschlag auf die junge Beamtin und ihren Kollegen Martin A. im April 2007 beantragt. Unter anderem sollen Erkenntnisse über Teilnehmer der rechten Aufmärsche, bei denen Kiesewetter im Einsatz war, mit den Listen der Sicherheitsbehörden abgeglichen werden, die das Umfeld des NSU zeitweise auf eine dreistellige Personenzahl beziffert haben.

Die Antragsteller vertreten zwar Angehörige anderer NSU-Opfer, sehen jedoch den versuchten Doppelmord an den Polizeibeamten als eine Art Schlüsselfall. Kaum aufgeklärt sei nach wie vor »das jeweilige behördliche Umfeld der Straftaten und die behördlichen Tätigkeiten im unmittelbaren Zusammenhang mit den Straftaten«, so Nebenklageanwalt Alexander Kienzle, der mit Kollegen die Angehörigen des 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat vertritt. Als der 21jährige starb, war der Verfassungsschützer Andreas Temme am Tatort, der heute als Zeuge gehört werden soll. Offenkundige Ermittlungsansätze im rechten Spektrum seien nicht mit der gleichen Entschiedenheit verfolgt worden wie dies im Umfeld der Familien mit Migrationshintergrund geschehen sei, heißt es in dem Antrag weiter.

Zwölf rechtsextreme Veranstaltungen in mehreren Städten Baden-Württembergs und Niedersachsens, bei denen Kiesewetter von Januar 2006 bis zum Februar 2007 im Einsatz war, sind im Rahmen der Ermittlungen aktenkundig geworden und ergaben sich aus ihren Dienstplänen. Darunter Demonstrationen in Stuttgart, Ulm, Pforzheim, Göttingen, Friedrichshafen sowie Eilwangen und Aulendorf, ein Skin-Konzert in Waiblingen sowie der baden-württembergische Landesparteitag der NPD am 19. November 2006 in Karlsruhe.

Mindestens zwei Einsätze in Göttingen hätten 2006 »mit regionalem Szenebezug zu hier angeklagten oder als Zeugen vernommenen Personen, namentlich insbesondere Holger Gerlach und Alexander S.« stattgefunden, so Nebenklageanwalt Alexander Kienzle in dem Beweis­antrag. Der als NSU-Helfer angeklagte Holger Gerlach stammte wie das Opfer Michèle Kiesewetter und die mutmaßlichen Täter aus Thüringen, lebte aber zu dieser Zeit in Hannover, mit dem ICE rund 35 Minuten von Göttingen entfernt. Es sei »alles andere als fern liegend«, daß es bei einer der Veranstaltungen zu einem dienstlichen Kontakt der Polizistin mit dem NSU-Umfeld gekommen sei, erklärten die Nebenklagevertreter. Tragfähige Ermittlungen seien aber hierzu weder vom Generalbundesanwalt in Auftrag gegeben, noch vom Bundeskriminalamt getätigt worden.

Es sei noch zu prüfen, ob Erkenntnisse und Datenerhebungen von Polizei und Verfassungsschutz über die Teilnehmer der rechten Aufmärsche vorliegen, bei denen Kiesewetter im Einsatz war. Die erfaßten Teilnehmer seien mit den Listen von Personen abzugleichen, die von Sicherheitsbehörden zum NSU-Umfeld gezählt werden, forderten die Anwälte. Zwei Kollegen von Kiesewetter, darunter der Vorgesetzte, der am Tag des Mordes die Beamten einteilte, waren Mitglieder des rassistischen Ku-Klux-Klans.

* Aus: junge welt, Mittwoch, 29. Januar 2014


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